Freiraum:Dreamland

Gute Nachrichten

von Martin Teuschel

Zum gesamten Inhalt von www.berlinerplakate.deZum Seitenanfang "Er war ein guter Mensch; denn er hatte nie schlecht über andere geredet." Die Worte, voller Bedacht gewählt, berührten Gabriel tief. Er sah Siegmund an, und er sah in dessen Augen Ehrlichkeit. In Sigmunds ruhiger Stimme vernahm der junge Mann die Hochachtung, die nach dem Tode nicht verblasste oder ausgeschmückt wurde. Gabriel war tief beeindruckt.  
Die beiden hatten ihr Gespräch beendet, Gabriel hatte erfahren, was er sich wünschte und reichte seinem Gegenüber zum Abschied die Hand. Als sich die Hände berührten, befielen ihn Schwindel.

Dunkelheit und Licht wechselten schnell und blendeten Gabriel. Rot durchzuckten Blitze den blauen Himmel. Dann wieder Dunkelheit. Die Schwärze wurde licht. Mehr und mehr wurden Nebelschleier sichtbar. Sigmund war verschwunden. Und mit ihm alles andere. Und dann gab es einen Ruck. Gabriel fiel. Die blonden Haare Gabriels flatterten im Wind des freien Falls durch die Luft.

Als Gabriel sein Bewusstsein wiedererlangte, sah er in das Gesicht einer schönen Frau.
"Wo bin ich?", fragte er. Die Frau antwortete: "lm Elmstal. Du hast drei Tage und drei Nächte geschlafen. Mein Mann hat dich auf dem Feld gefunden. Du lagst da. Im tiefen Schlaf. Du rührtest Dich nicht, deshalb brachte er Dich zu uns." Gabriel erinnerte sich nicht. Nicht woher er kam. Nicht wie er hergekommen war. Doch er war dankbar, denn gute Menschen hatten ihn gefunden und gepflegt.  
"Ist er wach? Ist er wach?" Sofie und Leander hatten seine Stimme gehört. Aufgeregt liefen sie im Nachbarzimmer umher, begierig den Fremden kennen zu lernen.

Elisabeth wandte den Blick von dem jungen Mann zu den Stimmen: " Seid leise, er muss sich erholen. Geht nach draußen." - "Och", kam zweistimmig aus den Kindermündern. Und sie gehorchten ihrer Mutter. Gabriel setzte sich auf. Er sah Elisabeth an: Sie war eine schöne Frau. Vielleicht dreißig, sie trug schwarzes Haar eng am Kopf gebunden, ihre Augen waren braun, und erinnerten ihn, durch die Erscheinung ihres zarten, grazilen Körpers, ihrer sonnengebräunten Haut und den feinen Zügen ihres Gesichts an ein Reh. Das Reh verschwand, er hörte Kochtöpfe.  
Metallisches Klappern und der Duft eines guten Eintopfs. Sein Magen gab ihm laut zu verstehen, dass er hungrig war. Was für ein Glück, Hilfe von diesen Menschen zu bekommen. Vorsichtig erhob er sich, ging durch den Raum, wankte ein wenig, umfasste den Türknauf, drehte ihn bis er das Schloss rasten hörte und trat unsicher in die Küche. Dort kochte Elisabeth. Er nahm am Küchentisch Platz. Der Tisch war schon gedeckt. Die Tür öffnete sich.  

Es waren nicht die Kinder, es war Peter: Elisabeths Mann. "Du bist wieder aufgewacht. Wir haben uns schon Sorgen gemacht." Er kam direkt auf Gabriel zu, reichte ihm seine mächtige, von schwerer Arbeit geformte Hand und griff herzlich fest zu. Händeschütteln. Sie stellten einander vor, wobei Gabriel kurz zögerte. Sein Name. Er riet und sagte unsicher: "Gabriel." Peter ließ Gabriel los, drehte sich zu Elisabeth, näherte sich ihr und klapste auf ihren Po. Er küsste sie am Hals, hinten im Nacken. Dort wo es sie sehr kitzelte. Sie umarmte ihn kichernd. Die Liebe zwischen ihnen war offensichtlich. Sie harmonierten, dass Gabriels Bauch Entzücken meldete.         Die Liebenden hörten das tiefe laute Grummeln und lachten. Schnell wurden der Tisch gedeckt, die Kinder gerufen und ein Gebet gesprochen. Ehrliche und einfache Worte richtete Peter für sich, seine Familie und den Gast an Gott. Sie begannen zu essen. Auch Gabriel hielt seine Hände gefaltet, senkte sein Haupt, doch seine Gedanken waren nicht bei Gott. Gabriel selbst war Atheist und Religion hielt er für Verführer der Massen. Doch diese Menschen hier, die mit ihm an dem Tisch saßen beeindruckten ihn. Er beschloss nicht mit ihnen über Gott zu sprechen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass diese Gespräche nur bittere, ungenießbare Früchte zu Tage brachten.

 

Er ließ diese Menschen glauben. Ohne Worte. Der Bohneneintopf war deftig und füllte angenehm den Magen. Jetzt begann die Familie mit ihren Fragen, und Gabriel seinerseits stellte seine. Spät in der Nacht gingen sie alle ins Bett. "Denk daran: Die Träume in der ersten Nacht gehen in Erfüllung.", sagte Elisabeth ihm mit einem liebevollen Lächeln. "Ja, ich denke daran", sagte Gabriel und blickte Elisabeth an, verblieb so bis ihm Dauer und Intensität des Blicks bewusst wurde. Er wandte sich schnell ab, während seine Lider langsam, wie zu einer bevorstehenden Ohnmacht niederschlugen. Er befürchtete, sein Blick sei zu lang gewesen und könne die herrschende Harmonie gefährden. Kurze Zeit später lag er rücklings im Bett, kreuzte die Hände hinter dem Kopf und blickte aus dem Fenster: Dort leuchtete hell das Gestirn. Zikaden musizierten. Seine Gedanken hielten ihn wach. Wer war und woher kam er? Gewiss, er hieß Gabriel. Das nahm er zumindest an. Wirklich erinnerte er sich nicht. Der Name war ihm als erstes eingefallen, als Peters Vorstellung einen Namen erforderte. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr wuchs seine Unsicherheit. Doch es war nicht nur sein Name, der ihm entfallen war. Was war mit seinem Leben, war er Familienvater wie Peter und wer waren seine Eltern? Mitten in den Grübeleien wurde sein Atem ruhiger und seine Gedanken langsamer. Er schlief ein, und seine Gedanken vermischten sich mit den Bildern der Nacht:

Er befand sich in tiefer Dunkelheit. Langsam sichtete er Schatten und Schemen. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Mit gestreckten Armen und tastenden Händen erfühlte Gabriel die Umgebung. Er war an einem kühlen Ort. An seiner Seite war eine Mauer mit großen Steinen. Kalte Feuchtigkeit lag auf ihnen. Er folgte seinen Händen. Sie führten ihn schrittweise durch den Gang, bis seine rechte Hand in die Leere griff. Der Gang verlief jetzt seitlich. Während seine Hand die Ecke abtastete, hörte er eine Stimme rufen: "Gabriel..." Leise und flüsternd kam sie zu seinen Ohren. Sowohl Neugier, als auch der Wunsch diesen eher ungemütlichen und zugleich vertraut wirkenden Ort zu verlassen ließen ihn der Stimme folgen. "Gabriel", da war sie wieder. Der Ruf war laut genug, um sicher zu sein, das er um die Ecke gehen musste. Gabriel.

Das war sein Name. Vielleicht konnte die Stimme ihn auf den richtigen Weg führen. "G - A -B - R -I - E - L..." Er bog um die Ecke. Langsam und achtsam setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er erstes Licht am Tunnellende sah. Ihm wurde bewusst: Er hatte keine Angst. Das Fehlen von Angst, normalerweise ein unbemerkter Zustand, erschien ihm plötzlich wichtig.

 


Die Umgebung wurde mit jedem Schritt deutlicher. Zu den Schemen und Schatten  gesellten sich Farben. Altes, braunes Gemäuer. Wo Licht die Mauer berührte, glänzte sie silbern. Gabriel folgte dem Gang weiter. Seine Neugier wuchs schrittweise. Er ging dem Licht entgegen. Dann trat er aus dem Tunnel heraus. Jetzt befand er sich in einem großen Stadion.
Der Himmel zeigte sich achtförmig über der riesigen Mauer. Grosse Steinstufen, zum Stehen und Sitzen gleichermaßen geeignet, führten nach unten, und mündeten dort in zwei kreisförmige Arenen. Überall waren Menschen, auf den Bänken und in den Arenen.  
"Gabriel!" Er sah sich um. Diesmal war die Stimme schwerer zu orten, sie kam aus der Menge, die ihrerseits über unzählige andere Stimmen verfügte. Doch diesmal kam ihm die Stimme sehr bekannt vor. Eine Frauenstimme. Und dann sah er sie: Elisabeth. Sie winkte ihm zu und kam ihm näher. Er winkte ebenfalls und ging ihr entgegen. Ihre Augen erkannten sich, zielstrebig gingen die beiden aufeinander zu. Es gab nichts wichtigeres, als sich zu nähern. Bis sich ihre Hände berührten. Erst jetzt ließen ihre Augen voneinander ab. Ihre Blicke fielen zu Boden. Gabriel fühlte ihre Haut. Elisabeth sagte: "Gabriel, ich werde dir etwas zeigen." Ihre rechte Hand lag weiter in der seinen, doch ihr linker Arm malte einen Kreis durch die Luft. Der Kreis schloss alle Menschen ein, die sich im Stadion befanden. "Die Menschen sind nicht hier, um etwas zu sehen.", erklärte die Sanftmütige. "Sie sprechen miteinander, führen Dialoge." Manche saßen auf den Stufen, andere standen und sprachen mit vielen Gesten. Videomonitore schwebten über dem Stadion und zeigten schnell wechselnde Bilder. Es waren Gesichter der Anwesenden, Krieg, Naturlandschaften, Orkane, Wüstenblühen, Flugzeugabstürze, Ordensverleihungen, Museen, einstürzende Bauwerke, Hochzeiten, Beerdigungen, Schulklassen und Reisbauern im schnellen Wechsel. Zwischen den Rednern gesellten sich Zauberer und Magier und vollführten Wunder. Blitze wurden durch die Luft geschleudert, Blumen regneten aus Händen, Blinde wurden sehend gemacht, Artisten vollführten Saltos, Gaukler rannten schnell umher und Kegel wurden durch die Luft jongliert.
Alles bewegte sich. Das Stadion lebte. Gabriel wurde vom Überfluss verwirrt. Elisabeths Handwärme: Ein fester Punkt, an dem er sich zu orientieren vermochte.

Ein Zauberer mit  blauen Mantel und blauen Hut, verziert mit Zaubersternen aus reinem Gold zogen des Blonden Blicke an. "Magie, Illusion und Wahrheit", raunte er Gabriel verführerisch zu. Der Angesprochene zeigte sich interessiert. "Was kannst Du?", fragte er. "Ich zeige Dir das wahre Leben, das Gute und das Böse darin..." Gabriel sah ihn an, er wollte die Zauberkünste sehen. "Komm, wir gehen weiter...", bat ihn Elisabeth. "Es lohnt sich nicht." Doch Gabriel wollte das Spektakel erleben. "Setzt euch nieder.", befahl er und aus seiner Handbewegung entstand unter den Füssen der Zuschauer ein Teppich mit den wunderlichsten Wesen. Elisabeth und Gabriel setzten sich. "Ihr seid glücklich...", flüsterte er ihnen zu und malte mit seinem Zauberstab ein Herz in die Luft. Es verblieb dort und glänzte silbrig. Dann nahm es Form an. Es wurde zum Kussmund. Perfekt gezogene Lippen spannten sich für den letzten Strich des Lippenstifts. Die Lippen zogen sich zurück, und zugehörig zu den Lippen zeigte sich eine junge, äußerst attraktive Frau. Sie drehte sich, sie bewegte sich, tanzte ein wenig, bevor sie zur Metalldose griff und sie unter die Achsel richtete. "Jetzt bin ich bereit", hauchte sie ihren Zuschauern entgegen und verließ das Haus.

Dort waren schöne Menschen, die auf der Strasse liefen. Ein junger Mann aus der Nähe. Die Rasur verriet einen sportlichen Rasierer. Sein starkes Selbstbewusstsein zeigte er offen, als er der Frau lässig zuwinkte und sie einlud mitzufahren. Die Vision offenbarte    den Sehenden phantastische Bauten, durch die Augen eines Adlers. Ruhig und kräftig glitt er durch die Wunderwelt hindurch. Plötzlich blieb er stehen. Setzte sich auf einen Briefkasten und schaute einen Mann an. Ein Reporter mit einem großen, gelben Mikrofon berichtete aufgeregt: „Skandal. Ein dreißig Jähriger nutzte schamlos die Gesetze zur Unterstützung der Armen aus und stahl 50000 Silbertaler. Das Parlament debattiert über eine Verschärfung der Erteilungsauflagen. Ein Mann hat seine Nachbarin entführt und vergewaltigt. Im Ministerium für Sicherheit unseres Staates verschwanden acht Millionen Goldtaler. Der Minister Siegelmund ist bereits zurückgetreten. Die Ethnische Automobil Gesellschaft entlässt 40000 Mitarbeiter. Die Börse reagiert mit Zuversicht." Der Adler saß noch immer da. Geheimnisvoll blinkte sein Auge. So als wollte es sagen: "Die wahre Welt. Ganz ungeschminkt." Seine Flügel schlugen, er erhob sich, und schwebte am Himmel. Macht und Kraft verbanden sich mit ihm in eine erhabene Ruhe. Und die Vision erschien wieder aus seinen Augen.
Ein Dorf erschien unter ihm. Eine zauberhafte Idylle. Rote Dächer mit weißen Grundmauern, ordentlich abgegrenzte Zäune. Zwei Dorfbewohner, Peter und Franz, traten an ihren Gartenzaun und redeten über den dritten Nachbarn. Peter mochte Franz Auto sehr, Hans bevorzugte Franz Frau. Doch sie sagten es nicht.
Stattdessen sagte Peter zu Hans: "Der Franz, der hat einen großen Kredit aufnehmen müssen für sein Auto. Ob der sich das wohl alles leisten kann?"
 "Wer weiß, vielleicht arbeitet er ja schwarz.., oder seine Frau..." "Hmmm... , tja, da müsste man mal Mäuschen sein..."
"Ja, bei ihr, da habe ich immer so ein komisches Gefühl. Sie wirkt so ein bisschen..." - "Ja, wie denn?"
- "Na ja, so ein bisschen... verrucht." - "Wie eine ... ?" - "Na ja, du weißt schon... so ein bisschen nuttig." - "Ja, da habe ich auch schon öfter drüber nachgedacht." - "Du, ich habe da einen Plan..."
Die beiden Männer verharrten in den Vorgärten ihrer Häuser. Nebel zog auf. Schnell und lautlos wandelten sich die Frühlingsfarben in beklemmendes Grau.
Der abnehmenden Durchsichtigkeit entwuchs ein Licht und färbte den Nebel weiß. Einige Flecken blieben grau. Aus diesen entstand ein fester Schatten. Er wurde größer und gewann die Konturen eines Kapuzenträgers, der aus dem Nebel trat. Unter der Kapuze seines schwarzen Umhangs leuchteten Angst einflößend rote Augen. Er ging gebeugt, er stützte sich auf einen langen, natürlich gewachsenen Stock. Seine Stimme war tief und kalt zugleich. "Das ist das Wesen der Menschen: Sie streben nach Reichtum und Wohlstand, ihre Mäuler sind nie satt genug, ihre Worte sind neidisch und gemein, und Ihr Handeln ist bestimmt von der Leichtigkeit des Bösen. Ihr habt es gesehen, der eine voller Neid, der andere voller Lust. Und was wird die Zukunft bringen? Die Früchte ihres Handelns: Befriedigung ihrer Lust, neu geborene Übeltat und unendlich viel Leid. Es ist ein unhaltbarer Kreislauf. Die Verdammung der Menschheit."
Der Mann drehte sich um, seine Augen blitzten ein letztes Mal den Zuschauern kalt über die Schulter, und er verschwand im Nebel.
Elisabeth war es leid. Sie war nicht interessiert weiter zusehen. Sie wollte weiter. Wollte Gabriel Neues zeigen.  Sie fragte Gabriel, ob er in der Vision Neues erwarte. Oder ob er den Verlauf der magischen Darbietung erahnen könne. Gabriel nickte ihr zu. "Es wird böse enden", ahnte er. "Lass uns gehen. Lass uns unsere Zeit mit guten Menschen verbringen. Wir haben nur eine Zeit. ", bat Elisabeth, machte eine kurze Atempause und fügte hinzu: "Lass sie uns nutzen."

Die Schaulust und der große Unterhaltungswert hatten Gabriel mit lähmender Faszination bedeckt, doch Elisabeths Worte fanden Gehör. Neues interessierte ihn mehr, als altbekanntes Leid. Sie liefen durch das Stadion. Immer wieder trafen sie Menschen, die Gutes getan hatten. Albert Schweitzer, Mahatma Ghandi, Mutter Theresa, der heilige Martin, Nelson Mandela, Martin Luther King und viele andere waren da. Aber auch andere, die sich durch das Gegenteil ausgezeichnet hatten. Alle zusammen. Sie erzählten über ihr Wirken, doch mehr noch sie, sie boten Pläne an, die Welt aktiv zu bessern. Wie es sein könnte, wenn alle gut wären, wie schön die Welt sein könnte. Utopien mischten sich zu den Realitäten von Bürgerinitiativen, zivilem Ungehorsam, Mut zu geschichtlichen Änderungen, und dem Wechsel gesellschaftlicher Gewohnheiten. Plötzlich hielt Elisabeth an. Gabriel sah keinen Grund. Als Elisabeth sich kniete, erkannte er ihn. 

Sie sprach mit einem Kind. Das Kind sah traurig aus. Gabriel kniete sich hinzu und hörte: "Was hast Du? Warum bist Du so traurig?", vernahm er aus Elisabeths Mund. "Viele Menschen wünschen sich eine Welt ohne Armut und ohne Krieg. Warum kann unsere Welt nicht so schön sein?" Elisabeth umarmte das Kind. "Deshalb bist Du traurig?", fragte sie gerührt, obwohl sie wusste, das viele Kinderängste Krieg und Armut beinhalten. Für sie war das ein Grund mehr dem Kind Gehör und Achtung zu schenken. "Ja. Und weil alle sagen, das die Menschen schlecht seien. Und dann sagen sie, das eine gute Welt nicht mit schlechten Menschen gemacht werden kann. Weil schlechte Menschen, die guten Menschen immer ausnutzen." - "Und glaubst Du, das die Menschen schlecht sind?" - "Nein, nur manchmal... im Fernsehen, da zeigen sie immer so schreckliche Dinge. Und wenn Papa Zeitung liest, ärgert er sich oft sehr über schlechte Menschen. Aber Papa ist gut. Er steht jeden morgen ganz früh auf und geht arbeiten, damit wir genügend zu essen haben. Und Mama ist auch gut. Sie putzt immer die Wohnung, damit alles schön sauber ist. Und mittags kocht sie immer ganz leckerere Sachen, und von denen hebt sie was für Papa auf. Damit er essen kann, wenn er von der Arbeit zurück kommt. Und wenn er sich ausgeruht hat, spielt er immer mit uns. Und am Wochenende, da fahren wir immer auf tolle Spielplätze oder in die Berge oder ans Meer. Und Oma und Opa. Die sind auch gut. Die machen immer schöne Geschenke für uns. Und im Sommer fahren wir zu ihnen in die Ferien. Da dürfen wir ganz viele Sachen machen und haben ganz viel Spaß. Und ich... ich will doch auch alles gut machen..." - "Hmm", antwortete Elisabeth, "ich glaube in Deiner Familie sind wirklich gute Menschen."   - "Ja, bei uns schon. Aber bei denen im Fernsehen, da sind ganz viele schlechte. Die prügeln sich, verraten, und erzählen Lügen über andere. Wenn ich so über meine Schwester rede, verbietet mir meine Mama das immer."
Gabriel erinnerte sich an seine Kindheit: Schlecht über andere zu reden, das sollte er auch nie. Und trotzdem tat er es immer wieder. Es war so leicht. So viel leichter als zu unterlassen. Jetzt fragte er das Kind: "Vielleicht wird über Menschen mehr Schlechtes gesagt, als sie Schlechtes tun?" - "Vielleicht, ich weiß nicht so genau. Die im Fernsehen, die kenne ich nicht. Aber die sind oft sehr schlecht. Und da sieht man auch, das sie schlechte Sachen machen. So wie die da!" Das Kind zeigte auf einen Monitor mit Kriegsszenen. Gabriel und Elisabeth sahen dem Finger nach. "Die machen ganz schlechte Sachen", sagte Elisabeth dem Kind. "Aber können die Menschen, die Gutes tun und wollen, nicht die Welt verschönern? Wünschen sie es sich nicht sehr? Warum beschäftigen sie sich immer mit den schlechten Menschen und deren Taten?" - "Das sind schwierige Fragen. Warte einen Moment, ich möchte kurz darüber nachdenken." Elisabeth schloss kurz die Augen, setzte ihren Zeigefinger auf die Lippen, legte ihren Kopf in den Nacken, hielt inne, nickte kaum merklich, löste den Zeigefinger, öffnete ihre Augen und schaute in die des Kindes. Der klare, unschuldige Blick erregte sie kurz. Sie holte noch einmal Luft, war sich der Aufmerksamkeit des Kindes bewusst und antwortete: "Viele Menschen, die Gutes wollen, verschönern bereits die Welt. Sie machen es bereits überall. Doch die Wirkungen ihrer guten Taten sind zunächst klein und im einzelnen schwer zu erkennen. Doch das Wesen der Wirkung einer guten Tat und seine erlebte Erfahrung - dazu gehört auch Erleben durch Lesen oder Hören - ermöglichen es anderen, weniger phantasievollen oder mutigen Menschen dieses Handeln nachzuahmen.

Die Summe der Taten, ihrer Nachahmungen und der Wirkungen lässt schließlich das Gute in einer Gesellschaft durchscheinen." Elisabeth schaute das Kind an, vergewisserte sich kurz, ob das Kind alles verstanden hatte und noch aufmerksam war. Der wache, weit geöffnete Blick bestätigte Interesse und Verstand. Und so fuhr sie fort: "Meine Gedanken auf Deine Frage, warum sich die Menschen mit schlechten, nicht mit den guten Taten beschäftigen: Die heutige Welt hat viele schlechte Gesichter. Nahrung und Wohlstand sind so verteilt, das manche alles zu haben scheinen, und andere nichts haben und deshalb verhungern müssen. Zwischen Hungertod und Sättigung - in der Welt, in der alles überfließt, in der sie als schön, gut und in sich eins empfunden wird, weil sie umgeben von kulturellen und sozialen Höchstleistungen ist - gibt es viele Arten des Unrechts. Das Interesse, Unrecht zu beseitigen, benötigt Nachrichten über schlechte Zustände, die nicht direkt erfahrbar sind. So wird es möglich, das Menschen, die Wohlstand erleben, sich für Gerechtigkeit einsetzen, damit auf einer anderen Weltseite Hungernde genährt oder Kranke medizinisch betreut werden. Doch diese Nachrichten sind nicht für alle Menschen leicht zu nutzen, oft werden sie hingenommen oder verallgemeinert. Die Hinnahme führt zum Verkümmern von Willen und Mut zur Änderung der Ungerechtigkeit. Die Verallgemeinerung entreißt Probleme aus ihrem Zusammenhang, und sie erscheinen als unbezwingbares Geflecht. Dieses kann jedoch immer in kleinen Schritten entwirrt und verändert werden. Ein weiterer Grund, warum sich Menschen gerne mit dem Wesen des Schlechten beschäftigen liegt darin, das es eine starke Faszination ausübt. Diese Beschäftigung hilft uns im Gedankenspiel, Teile unserer Persönlichkeit auszuleben, die unerwünscht, aber wie ich denke, in jedem vorhanden sind." - "Menschen sind also gut und böse zugleich?" - "Ja, das liegt in unserer Natur, aber ebenso liegt in uns der Wunsch stets Gutes vollbringen zu wollen." - "Aber können wir nicht leichter eine gute Welt machen, wenn wir uns auf unsere gute Taten konzentrieren, statt auf die schlechten der anderen?"  - "Ja und Nein zugleich. Gewiss hätten wir es viel leichter, wenn wir uns nur auf gute Neuigkeiten konzentrieren würden. Doch wir liefen Gefahr blind für echte Probleme zu werden. Und außerdem denke ich, es ist besser, wenn Menschen ihren schlechten Anteil mit bösen Inhalten befriedigen können, anstatt ihn auszuleben. Lernen jedoch viele, sich Nachrichten konzentrierter zu widmen, und suchten sie zu  schlechten Inhalten gleiche Anteile guter Inhalte, besserte sich ihre Weltsicht und ihr Menschenbild. So könnten alle Menschen, die sich eine bessere Welt wünschen, lernen, ihre Wünsche zu definieren und in Taten, die sie den Wünschen näher bringen, umzusetzen." In Gabriel keimte Hoffnung. Vor seinem inneren Auge erinnerte er sich an seine Bekannten. Keine besonders guten Menschen, aber auch keine besonders schlechten. Die meisten wünschten sich tatsächlich eine schöne Welt, doch ebenso waren sie überzeugt, das die Menschen schlecht seien. Peter sorgte sich in seinem Betrieb, nicht nur um seinen Profit. Ihn interessierte ebenso sehr, die Verantwortung, die er für die Arbeiter und ihre Familien trug. Claudia handelte mit Immobilien und spendete jeden Monat Geld für gemeinnützige Organisationen. John arbeitete seit Jahren nicht mehr für Geld, doch in seiner freien Zeit besuchte gerne alte, einsame Menschen und spazierte mit ihnen durch Parks. Frank war seit vielen Jahren Reporter und half Hausprojekten immer wieder mit Spenden aus. Und alle träumten von einer schöneren Welt. Vielleicht würden sie gerne in einer anderen Welt leben.
"Ja", sagte das Kind. "Möchtest Du eine Zeitung haben?" - "Ja, gerne", sagte Elisabeth und ließ sich eine schenken. Sie überflog die Schlagzeilen: "Mutter nach neun monatlicher Entbehrung Zwillinge geboren - Taifun verwüstet Tanalia - Friedrich (14) entschuldigt sich öffentlich bei seiner Schwester - Bei Unruhen in Dreiflingen 18 Rebellen erschossen - Eltern errichten in Gemeinschaftsinitiative einen neuen Spielplatz - Lebenshilfe: Wie Sie zur  Gemeinschaftsarbeit motivieren - Tipps: Verschönern Sie Ihr Umfeld"   und steckte die Zeitung in die Tasche. Mit der Zeitung verschwand Elisabeth, das Stadion, alles.  

Gabriel öffnete die Augen sah aus dem Fenster und erfreute sich an tausend Sternen. Es war Nacht. Er dachte über seinen Traum nach, er erschien ihm klar. Und hatte ihm Erinnerung gebracht: Seine Freunde Frank, John, Claudia, Peter und seine Kindheit. Sie waren Wirklichkeit. Sie gehörten zu seinem Leben. Gabriel lag in seinem Bett, belauschte die Nacht und dachte über seinen Traum nach. Er fühlte sich sehr gelöst und frei, ihm ging durch den Kopf, das er morgens durch das Kinderlachen geweckt werden würde. Noch mehr Erinnerung würde zurückkommen. Elisabeth hatte gesagt, der Traum der ersten Nacht würde in Erfüllung gehen. Der Gedanke trieb seinen Geist noch eine Weile zum spielen an, bis er wieder in die Nacht eintauchte.  

Er wurde geküsst, öffnete die Augen und sah in Annas Gesicht. "Komm, los aufwachen." Sie rüttelte und zerrte ein bisschen an ihm, wie sie es gern mochte. "Siegmund ist schon weg. Er wollte Dich nicht wecken." Kurz schloss Gabriel die Augen... "5 Minuten noch, ich hatte so schön geträumt."


von Martin Teuschel

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