Freiraum:Dreamland

Kopftuch

von Martin Teuschel

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Ich ging morgens zur Arbeit. Die Bahn war voll. Müde sah ich aus dem Fenster. Endlich. Aussteigen. Schlaftrunken folgte ich den Pfad der anderen. Jeder Schritt trug mich der Arbeit näher.

Ich trat in das grosse, alte Gebäude: Friedrich – Schiller – Gymnasium stand in Stein geschlagen am Portal.

Wie jeden Morgen ging ich ins Lehrerzimmer. Ich war die Erste und genoss die einzigartige Stille der Schule und blickte aus dem Fenster hinaus. Ich trank meinen Tee und wärmte mein Gesicht in der Morgensonne. Nachdem ich meinen Tee getrunken hatte, setzte ich für meine Kollegen den Kaffee auf. Seinen Duft liebte ich. Ich genoss ihn. Die Maschine gluckerte vor sich hin. Und ich sah weiter aus dem Fenster.

Die einsamen, stillen Minuten verstrichen. Meine Gedanken schweiften in Wogen des Glücks.

Die Tür öffnete sich: "Guten Morgen, Yasmin!"

Ich entgegnete Herbert den Gruß. Wie jeden morgen kam er nach mir. Wie jeden morgen nahm er sich eine Tasse Kaffee und setzte sich zu mir. Wir unterhielten uns über die Kinder. Herbert und ich liebten den Beruf gleichermaßen. Selten bereute er den Entschluss Lehrer geworden zu sein.


 

Langsam kamen meine Kollegen. Wir wünschten uns einen guten Morgen und redeten ein wenig. Sie tranken Kaffee: Wie jeden Morgen. Die Stille verlor gegen Gespräche, um schliesslich im Kinderlachen zu ertrinken. Wir standen auf und begaben uns zu unseren Klassen.

Ich stand vor den Kindern, sie waren hell und aufgeweckt. Sie gaben mir das Gefühl angenommen zu sein. Sie spielten ein wenig, bis ich sie aufforderte, dann setzten sie sich. Sie wurden still und holten wie ich es ihnen angewiesen hatte, ihre Hefte mit den Hausaufgaben heraus.

Plötzlich ging die Tür auf. Sylvia, die Direktorin kam herein. „Liebe Jasmin", setzte sie an. „Es tut mir leid. Sie müssen das Kopftuch abnehmen." –„ Das darf ich nicht", entgegnete ich, „ich komme sonst in die Hölle." – „Dann müssen sie gehen." „Aber, aber … der Unterricht… meine Arbeit… die Kinder..." „Keine Sorge. Ich vertrete Sie…", stachen ihre Worte in mein Herz. Meine Hände wurden zu Fäusten, im Rachen verspürte ich zuviel Flüssigkeit, die Bitterkeit meiner Trauer. „Ich… ich…" Ich sprach nicht weiter. Konnte nicht. Meine Gedanken waren vertränt. Mein Leben zerstört. Meine Wut. Meine Handlungsunfähigkeit.
Meine Tränen brannten. Die Hand schmerzte von meinem Biss. Meine Muskeln ganz verhärtet. 
Ich rannte hinaus. Nachhause.


Dort blieb ich eingeschlossen in mein Zimmer. Mein Studium, mein Beruf, mein Leben, meine Existenz. Durch das Gesetz vernichtet. Natürlich war ich nicht blind gewesen. Hatte doch gesehen, wie sie diskutierten. Aber ich… ich doch nicht. War das nicht etwas anderes? Ich trug mein Kopftuch doch nicht, um eine Meinung zu vertreten. Ich glaubte doch an Gott. Für ihn trug ich es. Ich weinte. Bis ich einschlief.

Telefonklingeln weckte mich. Mein Körper war leicht und leer geworden. „Yasmin, geht es Dir gut?", fragte die Stimme. „Was sollte gut sein, Herbert? Was sollte gut sein?" – „Wir wollen dir helfen. Komm morgen zur Schule." „Wie … wollt ihr mir helfen?" – „Komm einfach."

Als ich schlafen ging hatte ich wenig Hoffnung. Meinen Wecker stellte ich trotzdem.

Ich ging morgens zur Arbeit. Die Bahn war voll. Bewusstlos sah ich aus dem Fenster. Endlich. Aussteigen. Hypnotisiert folgte ich dem Pfad der anderen. Jeder Schritt trug mich der Arbeit näher.
Ich trat in das grosse, alte Gebäude: Friedrich – Schiller – Gymnasium stand in Stein geschlagen am Portal.

Wie jeden Morgen ging ich ins Lehrerzimmer. Ich war die Erste und lauschte der einzigartigen Stille und blickte aus dem Fenster hinaus. Ich trank meinen Tee und wärmte mein Gesicht in der Morgensonne. Als ich meinen Tee ausgetrunken hatte, setzte ich für meine Kollegen den Kaffee auf. Sein Duft betörte mich. Ich genoss ihn. Die Maschine gluckerte vor sich hin. Und ich sah weiter aus dem Fenster.

Die einsamen, stillen Minuten verstrichen. Meine Gedanken schweiften in Wogen des Abschieds.

Die Tür öffnete sich: "Guten Morgen, Yasmin!" Ich entgegnete Herbert den Gruß. Wie jeden Morgen kam er nach mir. Wie jeden Morgen nahm er sich eine Tasse Kaffee und setzte sich zu mir. Diesmal redeten wir nicht über die Kinder. Er sah die Trauer in meinem Gesicht. Er setzte sich neben mich und trank seinen Kaffee. Schweigend. Und er legte seine Hand auf meine und sagte: „Wir helfen Dir."
Die Tür ging wieder auf: Annelie, Irmgard und Elke. Sie rannten mir entgegen und schlossen mich in ihre Arme. Und ich begriff: Sie trugen Kopftücher. Genau wie ich. Alle mit Kopftüchern. Ich mußte lächeln und betete innerlich zu Gott. Dann kamen die anderen. Meine Kolleginnen mit Kopftüchern. Und draussen vor der Schule standen die Kinder mit ihren Müttern. Und die Mütter trugen ein Kopftuch.

Ich war glücklich. Meine Tränen waren wieder da. Ich war wieder da. Und ich war geliebt.

„Du musst noch zu Sylvia", sagte Herbert. Er drückte meine Hand kurz. Ich ging zu ihr. Bis hierhin war alles schön. Glück und Aufbegehren vermengten sich. Sylvia war jedoch dem Kultusministerium unterstellt. Sie musste an ihrer Schule Gesetze umsetzen. Alle anderen vertraten ihre Meinung und unterstützen mich. Sylvia jedoch führte Gesetze aus.

Meine Angst war gross. Langsam tastete ich mich aus dem Lehrerzimmer in den Schulflur. Der Gang schien unendlich lang. Gedanken rumourten in mir, meine Schritte waren bleiern und mein Innerstes bebte laut. Um meine Füsse floss Lava. Ich mühte mich, nicht zu verbrennen. Dunkle Wesen flogen durch den Flur. Die Türen verwandelten sich in Engel mit feurigen Schwertern. Ich schritt an ihnen vorbei. Und sie liessen mich passieren. Ich war ganz schwach, als ich an Sylvias Tür stand. Wie damals beim ersten Mal. Ich zitterte. Konnte sie alles zunichte machen? Zaghaft klopfte ich. Vielleicht das letzte Mal. Sylvia öffnete die Tür. Sie trug ein Kopftuch. „Entschuldigen Sie mein gestriges Verhalten: Wir werden ihnen helfen." Weinend fiel ich in ihre Arme.

Als ich meine Augen öffnete, saß Herbert an meinem Bett. „Es ist alles gut. Du hattest einen Zusammenbruch. Du bist im Krankenhaus. Deine Familie weiss Bescheid." Ein guter Freund. Ich sah mich um. Neben mir lag eine andere Frau. Sie trug ein Kopftuch. Ebenso die Krankenschwester. Herbert schaltete den Fernseher ein. „Sieh nur!"

Alle Frauen trugen ein Kopftuch. In der Bank, beim Einkaufen, alle trugen ein Kopftuch. Die Nachrichten überschlugen sich, die Moderatorin trug ein Kopftuch und interviewte Frauen mit Kopftuch: Die sagten, sie trügen das Kopftuch, solange bis die Regierung ein Gesetz für die freie Ausübung religiöser Bräuche und gegen Diskriminierung von Frauen verabschiedete. Sie wollten sich mit dem Kopftuch vor übergriffen ihrer männlichen Gesetzgeber schützen.

„Es ist wahr? Alles passiert?" „Ja, Yasmin … und dann bist du umgekippt. Das war wohl zuviel für Dich." Ich schaute ihn an.

Die einsamen, stillen Minuten waren verstrichen. Meine Gedanken schweiften in Wogen des Glücks.


von Martin Teuschel

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