Rot steht Novembersonne unter dunklem, gefrorenem
Wolkenmeer. Müde Lichtkegel lahmen auf schwarzem Erdweg vor einem Auto.
Blitzartig tauchen Bäume auf. Und verschwinden sofort. Zeit und Bewegung führen
mich in die Irre. Pferde, Kühe, Schweine, Gänse und dicke Autoreifen auf weißen
Plastikbergen bebildern das Land. Vereinzelte Häuser zeugen vom humanoiden Sein.
Der Zug wird langsamer. Stetig. Bis er hält. Der obdachlose Bahnhof besteht aus
zwei Pflastergleisen. Keine Lampe erhellt die Dämmerung. Stattdessen eine neue
Bahnhofsuhr. Totenbleich leuchtet sie einsam in vornächtlicher Dunkelheit. Mit
leuchtend weißem, schwangerem Kopf, bemalt mit dunklen Ziffern und im Kreis
geordneten Zeitstrichen prahlt ihre Neuheit unwirklich in ländlicher Idylle.
Die Uhr wirkt sehr fremd. Darunter, vermutlich hat sie schon oft auf die Uhr
geblickt steht eine junge Frau. Verschränkte Arme trotzen der Kälte. Ihr Lippen
und ihr unsicheres Lächeln zeigen Vorfreude. Es ist soweit. Endlich. Er kommt.
Gänsehaut und Erwartung verwirren sie. Das Gefühl drängt Freudentränen ins
Gesicht, die Sehnsucht öffnet ihre Arme, ihre Hände legt sie auf ihren Po und
schwenkt sie gleich wieder vor. Die Zugtüren öffnen sich. Turnschuhe,
Baseballmütze, Steppjacke und weite Sporthose strahlen weiß auf seinen
solarbraunen Körper, von dem nur ein jugendliches Gesicht und Hände sichtbar
bleiben. Zu Hautfarbe und blonden Haar passend, im Kontrast zur fehlenden
Kleiderfarbe: Gold. Grosse Ringe an den Fingergliedern und kleine an den Ohren.
Dazu großgliedrige Ketten. Eine wirbt mit großen Buchstaben für einen
italienischen Moderiesen. Aus einer alten Kollektion auf dem Trödel erworben.
Das Bild der Liebe gebrannt in sehnsüchtige Träume wird jetzt an Realität
gemessen. Seine Stadt hat ihn verändert, und sie trägt jetzt offenes Haar.
Natürlich umarmen die beiden sich. Es gehört sich so. Doch ein Widerstreben ist
erwacht. Der Kuss trocknet schnell auf den Lippen. Nebeneinander gehen sie in
gehen sie weg. Es gibt viel zu erzählen. Geliebte haben sich geändert.
Die Türen schließen nach krächzend missverständlicher Lautsprecherstimme. Die
Reise geht weiter. Der Zug beschleunigt, vor verschlossener Schranke blickt ein
altes Ehepaar mit roten Mützen und beigefarbenen Anoraks und blickt den Zug leer
an. Eintauchen in Birkenwald mit seinen knochigen, hellen Stämmen. Das
Walddunkel wandelt sich in einen Schlund mit gefährlichen Zähnen. Darüber
sprühen Kronen dünne Zweige schwarz ins Wolkengrau. von Martin Teuschel Zum Seitenanfang zur Übersicht |