Unkommerzielle Arbeiten von John-Martin Teuschel (JOMT) bis 2010

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www.berlinerplakate.de: Der gebrochene Mann von Martin Teuschel

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„Ein kaputtes Bein ist kein Beinbruch“, sagte der Arzt. Das Bein war mein. Drei Stunden vor Abflug. Das hatte ich mir anders vorgestellt.

Plötzlich habe ich viel Zeit. Liege unkonzentriert vor dem Ventilator. Er schneidet Sommerhitze in kleine Scheiben. Starre leeres Papier an. Verfange mich in der Fernsehschleife. Meine Finger klopfen auf den Tisch. Immer wieder neu. Freunde bringen Essen und Geschichten. Ich erinnere mich:

Nach endlosem Warten in der Rettungsstelle, bekam ich einen Gips. Der Arzt befand, dass ich operiert werden müßte. Dann wurde es bürokratisch. Ich sollte zum Hausarzt gehen und die Einweisung für das Krankenhaus, also für den Ort, an dem ich mich befand, besorgen. Um dreiundzwanzig Uhr war ich zu Hause angekommen. Blasen waren durch Wärme, Schweiß und Krückenplastik in meine Handflächen gerieben. Mein Urlaub war kaputt. Die Liebe an meiner Seite verzichtete spontan auf ihren Urlaub. Ich war beeindruckt: Es war nicht irgendein Urlaub, sondern der Urlaub, in dem sie ihre Familie und ihre Freunde in ihrer Heimat wieder sehen wollte. Der Sommerurlaub schenkte ihr und ihren Freunden, die zum Arbeiten in die Welt gefahren waren, jährlich das große Wiedersehen.

Am nächsten Morgen, nachdem ich meine Schmerzen im Griff hatte, rief ich meinen Hausarzt an. Ich erfuhr, das mein Besuch, nur zur Überweisung an einen Chirurgen führen würde. Dieser durfte mich ins Krankenhaus einweisen. Er nicht. Deshalb empfahl er mir einen anderen Arzt.

Das Angebot der Liebe an meiner Seite missfiel mir. Es war herzensgut und sehr großzügig. Doch mir widersprach verdoppeltes Leid. Mir reichte meins. Ein Freund löste das Dilemma. Er bot an, dass ich bei ihm wohnen könne. Jetzt konnte ich mit der Liebe an meiner Seite verhandeln. Sie opferte zehn Urlaubstage. Inakzeptabel blieb ihr, mich mit Schmerzen der Monotonie und dem Essen des Krankenhauses auszuliefern. Gezwungen, aber unendlich dankbar nahm ich ihr Angebot an.

Am späten Nachmittag erschien ich verärgert und termingerecht beim Chirurgen. Obwohl ich wusste, dass mein Anliegen ein Dokument und keine ärztliche Untersuchung war, hatte die Arzthelferin mir die Vertretung durch einen Freund verweigert.
Eine kurze Wartezeit später traf mich unbedacht der übliche Handdruck stechend in die mittlerweile geöffnete, brennende Blase. Die Untersuchung blieb aus. Doch meine Anwesenheit nutzte überraschend. Ich war der einzige, der das Krankenhausformular lesen konnte. Mein Bein schmerzte. Als ich wieder zuhause war, zeichneten blutige Male meine Handflächen.

Drei Tage gebrochen und unbehandelt. Am Mittwoch rief ich im Krankenhaus an, um einen Termin zu vereinbaren. Die Zeit drängte. Die Liebe an meiner Seite würde erst nach meiner Krankenhausentlassung ihren Urlaub beginnen. Doch die Frau am Telefon konnte nichts für mich tun. Sie bat mich am nächsten Tag zurückzurufen. Das Wochenende rückte näher. Wir wurden unruhig, denn es war klar, das am Wochenende nicht operiert werden würde.

Also bereitete ich mich vor. Ich erkundigte mich umfassend bei der Krankenkasse. Die Dame dort war über die unnötigen Verzögerungen durch das Krankenhaus verärgert. Sie konnte nicht viel für mich tun, bat mich jedoch, das Krankenhaus zu informieren, um weitere Patienten zu entlasten. Und sie versicherte mir, dass die Bürokratie am morgigen Tag beendet sein würde. Auf jeden Fall seitens der Krankenkasse.
 


 

Am Donnerstag rief ich um neun Uhr im Krankenhaus an. Erstaunlicherweise half die Person, mit der ich Vortags unter derselben Nummer gesprochen hatte, mir weiter.
Um zwölf Uhr musste ich zur Sprechstunde ins Krankenhaus.
Ich wies den Chefarzt auf die überflüssige Bürokratie hin. Er wurde wütend und schimpfte auf die Krankenkasse. Und schickte mich zur selbigen: Der Kostenübernahmeschein fehlte. Ich spürte sein Interesse an der Hetze gegen die Krankenkasse. Es schien größer als das des Erlangens neuer Erkenntnis und die Vereinfachung der Bürokratie für neu Erkrankte. Für mich eine Frage der Menschlichkeit. Unter anderen Umständen hätte ich mein Produkt in einem anderen Geschäft gekauft. Aber ich war in einer Zwangslage.

Ein Glücksfall hingegen die Angestellte in der Aufnahme: Ein Anruf bei der Krankenkasse machte den Schein überflüssig. Die Operation fand am Freitag statt.
Nicht wie befürchtet erst nach dem Wochenende.

Nach der Vollnarkose beschäftigte mich das Wechselbad aus Blut und Schmerz. Ich wurde Unzufrieden. Sekunden wurden zu Minuten. Minuten zu Stunden. Schnell entstanden kleine Streitereien mit dem Mitpatienten, den ich mir weder ausgesucht hatte und noch bewegen konnte, jemand anderes seine ununterbrochene Redseligkeit von geringem Gehalt und großem Selbstmitleid zu offenbaren. Er war betrunken mit Bierflasche umgekippt und hatte sich die Hand zerschnitten. Während ich weg wollte und nicht konnte, konnte er, wollte aber nicht weg. Bis Samstagabend blieb ich ans Bett gefesselt. Schaffte erst am Samstagabend einen kurzen Gang über den Stationsflur. Wieder brannten die aufgeschürften Hände. Meine Unzufriedenheit wuchs und entglitt zur Liebe an meiner Seite. War sie gegangen verblieb ich unglücklich, weil wir uns gestritten hatten. Ich bereute meine Ungerechtigkeit und bewunderte ihre Geduld.
Sonntag verfluchte ich laut meine Krücken. Eine Schwester hörte mich. „Das sind Gehhilfen, keine Krücken“, berichtigte sie mich. Ich war mir sicher, dass sie keine Ahnung hatte, wovon sie sprach. Die Verfluchten trugen ihren Namen zu Recht. Welchen Vorteil brachte ein besserer Name? Ich hasste die Krücken.
Bis Dienstag sollte ich bleiben. Keine Ewigkeit. Aber eine Geduldsprobe.
Am Montag sprach ich mit dem Arzt. Wegen der Hände. Er kannte eine Lösung. Honigpflaster wurde auf die Griffe geklebt und machte sie weicher. Doch mit dem Pflaster war die Visite nicht zu Ende. „Sie werden Mittwoch entlassen“, hörte ich. „Mittwoch… warum Mittwoch? Es hieß Dienstag.“, dachte ich. Der Arzt war weg. Ich nahm es hin. Die Liebe an meiner Seite regte sich auf. „Warum? Aus welchem Grund?“ Ich hatte resigniert. Vermutlich lag das an den Schmerzmitteln. Meine Denkleistung war minimiert. Oder war es die Hitze? Oder … Ich antwortete: „Wenn der Arzt Mittwoch sagt, heißt das Mittwoch.“ Die Liebe an meiner Seite blieb hartnäckig. Sie bearbeitete mich. „Mach was! Tu was! Änder’ das!“

Dienstag morgen fragte ich in der Visite nach dem Grund. Ich blieb vorsichtig. Hatte mir die Worte aufgeschrieben und auswendig gelernt. Die Visite ist kurz und wichtig. „Es hiess, ich werde heute entlassen. Gestern sagten sie, dass die Wunde gut aussieht. Das Röntgen war auch gut. Wenn alles gut ist, warum soll ich erst morgen entlassen werden?“ Die Frage traf. Der Arzt sah mich an, hielt kurz inne und sagte, ich würde heute entlassen werden. Ich war erstaunt. Wie dankbar ich der Liebe an meiner Seite war. Ich befreite sie telefonisch von ihrer Last. Ich ging zurück auf mein Zimmer. Packte meine Sachen. Wartete. Wartete. Mein Mitpatient wurde entlassen. Ich genoss die plötzliche Stille. Und wartete. Als das Mittagessen kam, fragte ich, was mit meinen Papieren sei. „Vergessen…“, las ich dem erstaunten Gesicht ab. Hörte aber anderes.

Heute, drei Wochen später, kam ich von der Physiotherapie. Die Kinder im Hof riefen: „Da geht ein gebrochener Mann.“ Ich lachte.
 

 


von Martin Teuschel

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