"Er
war ein guter Mensch; denn er hatte nie schlecht
über andere geredet."
Die Worte, voller Bedacht gewählt, berührten Gabriel tief. Er sah Siegmund an,
und er sah in dessen Augen Ehrlichkeit. In Sigmunds ruhiger Stimme vernahm der
junge Mann die Hochachtung, die nach dem Tode nicht verblasste oder ausgeschmückt
wurde. Gabriel war tief beeindruckt.
Die
beiden hatten ihr Gespräch beendet, Gabriel hatte erfahren, was er sich wünschte
und reichte seinem Gegenüber zum Abschied die Hand.
Als
sich die Hände berührten, befielen ihn Schwindel.
Dunkelheit
und Licht wechselten schnell und blendeten Gabriel. Rot durchzuckten Blitze den
blauen Himmel.
Dann
wieder Dunkelheit.
Die
Schwärze wurde licht. Mehr und mehr wurden Nebelschleier sichtbar.
Sigmund
war verschwunden.
Und
mit ihm alles andere.
Und
dann gab es einen Ruck. Gabriel fiel.
Die
blonden Haare Gabriels flatterten im Wind des freien Falls durch die Luft.
Als
Gabriel sein Bewusstsein wiedererlangte, sah er in das Gesicht einer schönen
Frau.
"Wo bin ich?", fragte er.
Die
Frau antwortete: "lm Elmstal. Du hast drei Tage und drei Nächte
geschlafen. Mein Mann hat dich auf dem Feld gefunden. Du lagst da.
Im
tiefen Schlaf. Du rührtest Dich nicht, deshalb brachte er Dich zu uns."
Gabriel
erinnerte sich nicht.
Nicht
woher er kam. Nicht wie er hergekommen war.
Doch
er war dankbar, denn gute Menschen hatten ihn gefunden und gepflegt.
"Ist
er wach? Ist er wach?"
Sofie und Leander hatten seine Stimme gehört.
Aufgeregt
liefen sie im Nachbarzimmer umher, begierig den Fremden kennen zu lernen.
Elisabeth
wandte den Blick von dem jungen Mann zu den Stimmen: " Seid leise,
er
muss sich erholen. Geht nach draußen." - "Och", kam
zweistimmig aus den Kindermündern. Und sie gehorchten ihrer Mutter.
Gabriel
setzte sich auf. Er sah Elisabeth an: Sie war eine schöne Frau.
Vielleicht
dreißig, sie trug schwarzes Haar eng am Kopf gebunden, ihre
Augen
waren braun, und erinnerten ihn, durch die Erscheinung ihres zarten,
grazilen
Körpers, ihrer sonnengebräunten Haut und den feinen Zügen ihres Gesichts an
ein Reh.
Das
Reh verschwand, er hörte Kochtöpfe.
Metallisches
Klappern und der Duft eines guten Eintopfs. Sein Magen gab ihm laut zu
verstehen, dass er hungrig war. Was für ein Glück, Hilfe von diesen Menschen
zu bekommen.
Vorsichtig
erhob er sich, ging durch den Raum, wankte ein wenig, umfasste den Türknauf,
drehte ihn bis er das Schloss rasten hörte und trat unsicher in die Küche.
Dort
kochte Elisabeth. Er nahm am Küchentisch Platz. Der Tisch war schon gedeckt.
Die Tür öffnete sich.
Es
waren nicht die Kinder, es war Peter: Elisabeths Mann. "Du bist wieder
aufgewacht. Wir haben uns schon Sorgen gemacht." Er kam direkt auf
Gabriel zu, reichte ihm seine mächtige, von schwerer Arbeit geformte Hand und
griff herzlich fest zu. Händeschütteln. Sie stellten einander vor, wobei
Gabriel kurz zögerte. Sein Name. Er riet und sagte unsicher: "Gabriel."
Peter
ließ Gabriel los, drehte sich zu Elisabeth, näherte sich ihr und klapste auf
ihren Po. Er küsste sie am Hals, hinten im Nacken. Dort wo es sie sehr
kitzelte. Sie umarmte ihn kichernd. Die Liebe zwischen ihnen war offensichtlich.
Sie
harmonierten, dass Gabriels Bauch Entzücken meldete.
Die
Liebenden hörten das tiefe laute Grummeln und lachten.
Schnell wurden der Tisch gedeckt, die Kinder gerufen und ein Gebet gesprochen.
Ehrliche
und einfache Worte richtete Peter für sich, seine Familie und den Gast an Gott.
Sie
begannen zu essen.
Auch
Gabriel hielt seine Hände gefaltet, senkte sein Haupt, doch seine Gedanken
waren nicht bei Gott. Gabriel selbst war Atheist und Religion hielt er für
Verführer der Massen. Doch diese Menschen hier, die mit ihm an dem Tisch saßen
beeindruckten ihn. Er beschloss nicht mit ihnen über Gott zu sprechen. Die
Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass diese Gespräche nur bittere, ungenießbare
Früchte zu Tage brachten.
Er ließ diese Menschen glauben. Ohne Worte.
Der
Bohneneintopf war deftig und füllte angenehm den Magen. Jetzt begann die
Familie mit ihren Fragen, und Gabriel seinerseits stellte seine. Spät in der
Nacht gingen sie alle ins Bett. "Denk daran: Die Träume in der ersten
Nacht gehen in Erfüllung.", sagte Elisabeth ihm mit einem liebevollen
Lächeln. "Ja, ich denke daran", sagte Gabriel und blickte
Elisabeth an, verblieb so bis ihm Dauer und Intensität des Blicks bewusst
wurde. Er wandte sich schnell ab, während seine Lider langsam, wie zu einer
bevorstehenden Ohnmacht niederschlugen. Er befürchtete, sein Blick sei zu lang
gewesen und könne die herrschende Harmonie gefährden. Kurze Zeit später lag
er rücklings im Bett, kreuzte die Hände hinter dem Kopf und blickte aus dem
Fenster: Dort leuchtete hell das Gestirn. Zikaden musizierten. Seine Gedanken
hielten ihn wach. Wer war und woher kam er? Gewiss, er hieß Gabriel. Das nahm
er zumindest an. Wirklich erinnerte er sich nicht. Der Name war ihm als erstes
eingefallen, als Peters Vorstellung einen Namen erforderte. Je mehr er darüber
nachdachte, desto mehr wuchs seine Unsicherheit. Doch es war nicht nur sein
Name, der ihm entfallen war. Was war mit seinem Leben, war er Familienvater wie
Peter und wer waren seine Eltern? Mitten in den Grübeleien wurde sein Atem
ruhiger und seine Gedanken langsamer. Er schlief ein, und seine Gedanken
vermischten sich mit den Bildern der Nacht:
Er
befand sich in tiefer Dunkelheit. Langsam sichtete er Schatten und Schemen.
Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Mit gestreckten Armen und
tastenden Händen erfühlte Gabriel die Umgebung. Er war an einem kühlen Ort.
An
seiner
Seite
war eine Mauer mit großen Steinen. Kalte Feuchtigkeit lag auf ihnen. Er folgte
seinen Händen. Sie führten ihn schrittweise durch den Gang, bis seine rechte
Hand in die Leere griff. Der Gang verlief jetzt seitlich. Während seine Hand
die Ecke abtastete, hörte er eine Stimme rufen: "Gabriel..." Leise
und flüsternd kam sie zu seinen Ohren. Sowohl Neugier, als
auch
der Wunsch diesen eher ungemütlichen und zugleich vertraut wirkenden
Ort
zu verlassen ließen ihn der Stimme folgen.
"Gabriel",
da war sie wieder. Der Ruf war laut genug, um sicher zu sein, das er um die Ecke
gehen musste. Gabriel.
Das
war sein Name. Vielleicht konnte die Stimme ihn auf den richtigen Weg führen. "G
- A -B - R -I - E - L..." Er bog um die Ecke. Langsam und achtsam
setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er erstes Licht am Tunnellende sah.
Ihm wurde bewusst: Er hatte keine Angst. Das Fehlen von Angst, normalerweise ein
unbemerkter Zustand, erschien ihm plötzlich wichtig.
Die Umgebung wurde mit jedem Schritt deutlicher. Zu den Schemen und
Schatten gesellten sich Farben. Altes, braunes Gemäuer. Wo Licht die
Mauer berührte, glänzte sie silbern.
Gabriel
folgte dem Gang weiter. Seine Neugier wuchs schrittweise.
Er
ging dem Licht entgegen. Dann trat er aus dem Tunnel heraus. Jetzt befand er
sich in einem großen Stadion.
Der Himmel zeigte sich achtförmig über der riesigen Mauer. Grosse Steinstufen,
zum Stehen und Sitzen gleichermaßen geeignet, führten nach unten, und mündeten
dort in zwei kreisförmige Arenen. Überall waren Menschen, auf den Bänken und
in den Arenen.
"Gabriel!"
Er sah sich um. Diesmal war die
Stimme
schwerer zu orten, sie kam aus der Menge, die ihrerseits über unzählige andere
Stimmen verfügte.
Doch
diesmal kam ihm die Stimme sehr bekannt vor. Eine Frauenstimme. Und dann sah er
sie: Elisabeth.
Sie
winkte ihm zu und kam ihm näher. Er winkte ebenfalls und ging ihr entgegen.
Ihre Augen erkannten sich, zielstrebig gingen die beiden aufeinander zu. Es gab
nichts wichtigeres, als sich zu nähern. Bis sich ihre Hände berührten. Erst
jetzt ließen ihre Augen voneinander ab. Ihre Blicke fielen zu Boden. Gabriel fühlte
ihre Haut.
Elisabeth
sagte: "Gabriel, ich werde dir etwas zeigen." Ihre rechte Hand
lag weiter in der seinen, doch ihr linker Arm malte einen Kreis durch die Luft.
Der Kreis schloss alle Menschen ein, die sich im Stadion befanden. "Die
Menschen sind nicht hier, um etwas zu sehen.", erklärte die Sanftmütige.
"Sie sprechen miteinander, führen Dialoge."
Manche
saßen auf den Stufen, andere standen und sprachen mit vielen Gesten.
Videomonitore schwebten über dem Stadion und zeigten schnell wechselnde Bilder.
Es waren Gesichter der Anwesenden, Krieg, Naturlandschaften, Orkane,
Wüstenblühen,
Flugzeugabstürze, Ordensverleihungen, Museen, einstürzende Bauwerke,
Hochzeiten, Beerdigungen, Schulklassen und Reisbauern im schnellen Wechsel.
Zwischen
den Rednern gesellten sich Zauberer und Magier und vollführten Wunder.
Blitze
wurden durch die Luft geschleudert, Blumen regneten aus Händen, Blinde
wurden
sehend gemacht, Artisten vollführten Saltos, Gaukler rannten schnell umher und
Kegel wurden durch die Luft jongliert.
Alles bewegte sich. Das Stadion lebte. Gabriel wurde vom Überfluss verwirrt.
Elisabeths Handwärme: Ein fester Punkt, an dem er sich zu orientieren
vermochte.
Ein Zauberer mit blauen Mantel und
blauen Hut, verziert mit
Zaubersternen
aus reinem Gold zogen des Blonden Blicke an.
"Magie,
Illusion und Wahrheit", raunte er Gabriel verführerisch zu.
Der
Angesprochene zeigte sich interessiert.
"Was
kannst Du?", fragte er.
"Ich
zeige Dir das wahre Leben, das Gute und das Böse darin..."
Gabriel
sah ihn an, er wollte die Zauberkünste sehen. "Komm, wir gehen
weiter...", bat ihn Elisabeth. "Es lohnt sich nicht."
Doch Gabriel wollte das Spektakel erleben.
"Setzt
euch nieder.", befahl er und aus seiner Handbewegung entstand unter den
Füssen der Zuschauer ein Teppich mit den wunderlichsten Wesen. Elisabeth und
Gabriel setzten sich. "Ihr seid glücklich...", flüsterte er
ihnen zu und malte mit seinem Zauberstab ein Herz in die Luft. Es verblieb dort
und glänzte silbrig. Dann nahm es Form an. Es wurde zum Kussmund. Perfekt
gezogene Lippen spannten sich für den letzten Strich des Lippenstifts. Die
Lippen zogen sich zurück, und zugehörig zu den Lippen zeigte sich eine junge,
äußerst attraktive Frau. Sie drehte sich, sie bewegte sich, tanzte ein wenig,
bevor sie zur Metalldose griff und sie unter die Achsel richtete. "Jetzt
bin ich bereit", hauchte sie ihren Zuschauern entgegen und verließ das
Haus.
Dort
waren schöne Menschen, die auf der Strasse liefen. Ein junger Mann aus der
Nähe. Die Rasur verriet einen sportlichen Rasierer. Sein starkes
Selbstbewusstsein zeigte er offen, als er der Frau lässig zuwinkte und sie
einlud mitzufahren. Die Vision offenbarte
den Sehenden phantastische Bauten, durch die Augen eines Adlers. Ruhig
und kräftig glitt er durch die Wunderwelt hindurch. Plötzlich blieb er stehen.
Setzte sich auf einen Briefkasten und schaute einen Mann an.
Ein
Reporter mit einem großen, gelben Mikrofon berichtete aufgeregt: „Skandal.
Ein dreißig Jähriger nutzte schamlos die Gesetze zur Unterstützung der Armen
aus und stahl 50000 Silbertaler. Das Parlament debattiert über eine
Verschärfung der Erteilungsauflagen. Ein Mann hat seine Nachbarin entführt und
vergewaltigt. Im Ministerium für Sicherheit unseres Staates verschwanden acht
Millionen Goldtaler. Der Minister Siegelmund ist bereits zurückgetreten. Die
Ethnische Automobil Gesellschaft entlässt 40000 Mitarbeiter. Die Börse
reagiert mit Zuversicht."
Der
Adler saß noch immer da. Geheimnisvoll blinkte sein Auge. So als wollte es
sagen: "Die wahre Welt. Ganz ungeschminkt." Seine Flügel
schlugen, er erhob sich, und schwebte am Himmel. Macht und Kraft verbanden sich
mit ihm in eine erhabene Ruhe. Und
die Vision erschien wieder aus seinen Augen.
Ein
Dorf erschien unter ihm. Eine zauberhafte Idylle.
Rote
Dächer mit weißen Grundmauern, ordentlich abgegrenzte Zäune.
Zwei
Dorfbewohner, Peter und Franz, traten an
ihren
Gartenzaun und redeten über den dritten
Nachbarn.
Peter mochte Franz Auto sehr, Hans bevorzugte Franz Frau.
Doch
sie sagten es nicht.
Stattdessen sagte Peter zu Hans:
"Der Franz, der hat einen großen Kredit aufnehmen müssen für sein
Auto. Ob der sich das wohl alles leisten kann?"
"Wer
weiß, vielleicht arbeitet er ja schwarz.., oder seine Frau..."
"Hmmm...
, tja, da müsste man mal Mäuschen sein..."
"Ja,
bei ihr, da habe ich immer so ein komisches Gefühl. Sie wirkt so ein
bisschen..." - "Ja,
wie denn?"
- "Na
ja, so ein bisschen... verrucht." -
"Wie
eine ... ?" - "Na
ja, du weißt schon... so ein bisschen nuttig."
- "Ja,
da habe ich auch schon öfter drüber nachgedacht." -
"Du,
ich habe da einen Plan..."
Die beiden Männer verharrten in den Vorgärten ihrer Häuser. Nebel zog auf.
Schnell und lautlos wandelten sich die Frühlingsfarben in beklemmendes
Grau.
Der abnehmenden Durchsichtigkeit entwuchs ein Licht und färbte den Nebel weiß.
Einige
Flecken blieben grau. Aus diesen entstand ein fester Schatten.
Er
wurde größer und gewann die Konturen eines Kapuzenträgers, der aus dem Nebel
trat. Unter der Kapuze seines schwarzen Umhangs leuchteten Angst einflößend
rote Augen. Er ging gebeugt, er stützte sich auf einen langen, natürlich
gewachsenen
Stock.
Seine
Stimme war tief und kalt zugleich.
"Das
ist das Wesen der Menschen: Sie streben nach Reichtum und Wohlstand, ihre Mäuler
sind nie satt genug, ihre Worte sind neidisch und gemein, und Ihr Handeln ist
bestimmt von der Leichtigkeit des Bösen. Ihr habt es gesehen, der eine voller
Neid, der andere voller Lust. Und was wird die Zukunft bringen? Die Früchte
ihres Handelns: Befriedigung ihrer Lust, neu geborene Übeltat und unendlich
viel Leid. Es ist ein unhaltbarer Kreislauf. Die Verdammung der
Menschheit."
Der Mann drehte sich um, seine Augen blitzten ein letztes Mal den Zuschauern
kalt über die Schulter, und er verschwand im Nebel.
Elisabeth war es leid. Sie war nicht interessiert weiter zusehen. Sie wollte
weiter. Wollte Gabriel Neues zeigen.
Sie fragte Gabriel, ob er in der
Vision Neues erwarte. Oder ob er den
Verlauf
der magischen Darbietung erahnen könne.
Gabriel
nickte ihr zu. "Es wird böse enden", ahnte er. "Lass
uns gehen. Lass uns unsere Zeit mit guten Menschen verbringen. Wir haben nur
eine Zeit. ", bat Elisabeth, machte eine kurze Atempause und fügte
hinzu: "Lass sie uns nutzen."
Die
Schaulust und der große Unterhaltungswert hatten Gabriel mit lähmender
Faszination bedeckt, doch Elisabeths Worte fanden Gehör. Neues interessierte
ihn mehr, als altbekanntes Leid.
Sie
liefen durch das Stadion. Immer wieder trafen sie Menschen, die Gutes getan
hatten. Albert Schweitzer, Mahatma Ghandi, Mutter Theresa, der heilige Martin,
Nelson Mandela, Martin Luther King und viele andere waren da. Aber auch andere,
die sich durch das Gegenteil ausgezeichnet hatten.
Alle
zusammen. Sie erzählten über ihr Wirken, doch mehr noch sie, sie boten Pläne
an, die Welt aktiv zu bessern. Wie es sein könnte, wenn alle gut wären, wie
schön die Welt sein könnte. Utopien mischten sich zu den Realitäten von Bürgerinitiativen,
zivilem Ungehorsam, Mut zu geschichtlichen Änderungen, und dem Wechsel
gesellschaftlicher Gewohnheiten.
Plötzlich
hielt Elisabeth an. Gabriel sah keinen Grund. Als Elisabeth sich kniete,
erkannte er ihn.
Sie
sprach mit einem Kind. Das Kind sah traurig aus. Gabriel kniete sich hinzu und hörte:
"Was
hast Du? Warum bist Du so traurig?", vernahm er aus Elisabeths Mund.
"Viele
Menschen wünschen sich eine Welt ohne Armut und ohne Krieg. Warum
kann unsere Welt nicht so schön sein?"
Elisabeth
umarmte das Kind. "Deshalb bist Du traurig?", fragte sie gerührt,
obwohl sie wusste, das viele Kinderängste Krieg und Armut beinhalten.
Für
sie war das ein Grund mehr dem Kind Gehör und Achtung zu schenken.
"Ja.
Und weil alle sagen, das die Menschen schlecht seien. Und dann sagen sie, das
eine gute Welt nicht mit schlechten Menschen gemacht werden kann. Weil
schlechte Menschen, die guten Menschen immer ausnutzen."
- "Und
glaubst Du, das die Menschen schlecht sind?"
- "Nein,
nur manchmal... im Fernsehen, da zeigen sie immer so schreckliche Dinge. Und
wenn Papa Zeitung liest, ärgert er sich oft sehr über schlechte Menschen. Aber
Papa ist gut. Er steht jeden morgen ganz früh auf und geht arbeiten, damit wir
genügend zu essen haben. Und Mama ist auch gut. Sie
putzt immer die Wohnung, damit alles schön sauber ist. Und mittags kocht sie
immer ganz leckerere Sachen, und von denen hebt sie was für Papa auf. Damit
er essen kann, wenn er von der Arbeit zurück kommt. Und wenn er sich ausgeruht
hat, spielt er immer mit uns. Und am Wochenende, da fahren wir immer auf tolle
Spielplätze oder in die Berge oder ans Meer. Und
Oma und Opa. Die sind auch gut. Die machen immer schöne Geschenke für uns. Und
im Sommer fahren wir zu ihnen in die Ferien. Da dürfen wir ganz viele Sachen
machen und haben ganz viel Spaß. Und
ich... ich will doch auch alles gut machen..."
- "Hmm",
antwortete Elisabeth, "ich glaube in Deiner Familie sind wirklich gute
Menschen."
- "Ja,
bei uns schon. Aber bei denen im Fernsehen, da sind ganz viele schlechte. Die
prügeln sich, verraten, und erzählen Lügen über andere. Wenn ich so über
meine Schwester rede, verbietet mir meine Mama das immer."
Gabriel
erinnerte sich an seine Kindheit: Schlecht über andere zu reden, das sollte er
auch nie. Und trotzdem tat er es immer wieder. Es war so leicht.
So
viel leichter als zu unterlassen.
Jetzt
fragte er das Kind:
"Vielleicht
wird über Menschen mehr Schlechtes gesagt, als sie Schlechtes tun?"
- "Vielleicht,
ich weiß nicht so genau. Die im Fernsehen, die kenne ich nicht.
Aber
die sind oft sehr schlecht. Und da sieht man auch, das sie schlechte Sachen
machen. So wie die da!"
Das
Kind zeigte auf einen Monitor mit Kriegsszenen. Gabriel und Elisabeth sahen dem
Finger nach.
"Die
machen ganz schlechte Sachen", sagte Elisabeth dem Kind.
"Aber
können die Menschen, die Gutes tun und wollen, nicht die Welt verschönern? Wünschen
sie es sich nicht sehr? Warum beschäftigen sie sich immer mit den schlechten
Menschen und deren Taten?"
- "Das
sind schwierige Fragen. Warte einen Moment, ich möchte kurz darüber
nachdenken."
Elisabeth
schloss kurz die Augen, setzte ihren Zeigefinger auf die Lippen, legte ihren
Kopf in den Nacken, hielt inne,
nickte
kaum merklich, löste den Zeigefinger, öffnete ihre Augen und schaute in die
des Kindes. Der klare, unschuldige Blick erregte sie kurz. Sie holte noch einmal
Luft, war sich der Aufmerksamkeit des Kindes bewusst und antwortete:
"Viele
Menschen, die Gutes wollen, verschönern bereits die Welt. Sie
machen es bereits überall. Doch
die Wirkungen ihrer guten Taten sind zunächst klein und im einzelnen schwer zu
erkennen. Doch
das Wesen der Wirkung einer guten Tat und seine erlebte Erfahrung
-
dazu gehört auch Erleben durch Lesen oder Hören - ermöglichen es anderen,
weniger phantasievollen oder mutigen Menschen dieses Handeln nachzuahmen.
Die
Summe der Taten, ihrer Nachahmungen und der Wirkungen lässt schließlich das
Gute in einer Gesellschaft durchscheinen." Elisabeth schaute das Kind
an, vergewisserte sich kurz, ob das Kind alles verstanden hatte und noch
aufmerksam war. Der wache, weit geöffnete Blick bestätigte Interesse und
Verstand. Und so fuhr sie fort:
"Meine
Gedanken auf Deine Frage, warum sich die Menschen mit schlechten, nicht
mit den guten Taten beschäftigen: Die
heutige Welt hat viele schlechte Gesichter. Nahrung und Wohlstand sind so
verteilt, das manche alles zu haben scheinen, und andere nichts haben und
deshalb verhungern müssen. Zwischen Hungertod und Sättigung - in der Welt, in
der alles überfließt, in der sie als schön, gut und in sich eins empfunden
wird, weil sie umgeben von kulturellen und sozialen Höchstleistungen ist - gibt
es viele Arten des Unrechts. Das
Interesse, Unrecht zu beseitigen, benötigt Nachrichten über schlechte
Zustände, die nicht direkt erfahrbar sind. So
wird es möglich, das Menschen, die Wohlstand erleben, sich für Gerechtigkeit
einsetzen, damit auf einer anderen Weltseite Hungernde genährt oder Kranke
medizinisch betreut werden. Doch
diese Nachrichten sind nicht für alle Menschen leicht zu nutzen, oft werden sie
hingenommen oder verallgemeinert. Die
Hinnahme führt zum Verkümmern von Willen und Mut zur Änderung der
Ungerechtigkeit. Die Verallgemeinerung entreißt Probleme
aus ihrem Zusammenhang, und sie erscheinen als unbezwingbares Geflecht. Dieses
kann jedoch immer in kleinen Schritten entwirrt und verändert werden. Ein
weiterer Grund, warum sich Menschen gerne mit dem Wesen des Schlechten
beschäftigen liegt darin, das es eine starke Faszination ausübt. Diese
Beschäftigung hilft uns im Gedankenspiel, Teile unserer Persönlichkeit
auszuleben, die unerwünscht, aber wie ich denke, in jedem vorhanden sind."
- "Menschen
sind also gut und böse zugleich?" - "Ja,
das liegt in unserer Natur, aber ebenso liegt in uns der Wunsch stets Gutes
vollbringen zu wollen."
- "Aber
können wir nicht leichter eine gute Welt machen, wenn wir uns auf unsere gute
Taten konzentrieren, statt auf die schlechten der anderen?"
- "Ja und Nein zugleich. Gewiss hätten wir es viel leichter, wenn wir uns nur
auf gute Neuigkeiten konzentrieren würden. Doch wir liefen Gefahr blind für
echte Probleme zu werden. Und außerdem denke ich, es ist besser, wenn Menschen
ihren schlechten Anteil mit bösen Inhalten befriedigen können, anstatt ihn
auszuleben. Lernen jedoch viele, sich Nachrichten
konzentrierter
zu widmen, und suchten sie zu schlechten Inhalten gleiche Anteile guter
Inhalte, besserte sich ihre Weltsicht und ihr Menschenbild. So könnten alle
Menschen, die sich eine bessere Welt wünschen, lernen, ihre Wünsche zu
definieren und in Taten, die sie den Wünschen näher bringen, umzusetzen."
In
Gabriel keimte Hoffnung. Vor seinem inneren Auge erinnerte er sich an seine
Bekannten. Keine besonders guten Menschen, aber auch keine besonders schlechten.
Die meisten wünschten sich tatsächlich eine schöne Welt, doch ebenso waren
sie überzeugt, das die Menschen schlecht seien. Peter sorgte sich in seinem
Betrieb, nicht nur um seinen Profit. Ihn interessierte ebenso sehr, die
Verantwortung, die er für die Arbeiter und ihre Familien trug. Claudia handelte
mit Immobilien und spendete jeden Monat Geld für gemeinnützige Organisationen.
John arbeitete seit Jahren nicht mehr für Geld, doch in seiner freien Zeit
besuchte gerne alte, einsame Menschen und spazierte mit ihnen durch Parks. Frank
war seit vielen Jahren Reporter und half Hausprojekten immer wieder mit Spenden
aus. Und alle träumten von einer schöneren Welt. Vielleicht würden sie gerne
in einer anderen Welt leben.
"Ja", sagte das Kind. "Möchtest Du eine Zeitung
haben?"
- "Ja,
gerne", sagte Elisabeth und ließ sich eine schenken.
Sie
überflog die Schlagzeilen:
"Mutter
nach neun monatlicher Entbehrung Zwillinge geboren - Taifun verwüstet Tanalia -
Friedrich (14) entschuldigt sich öffentlich bei seiner Schwester - Bei Unruhen
in Dreiflingen 18 Rebellen erschossen - Eltern errichten in
Gemeinschaftsinitiative einen neuen Spielplatz - Lebenshilfe: Wie Sie zur
Gemeinschaftsarbeit motivieren - Tipps: Verschönern Sie Ihr Umfeld"
und steckte die Zeitung in die Tasche.
Mit
der Zeitung verschwand Elisabeth, das Stadion, alles.
Gabriel
öffnete die Augen sah aus dem Fenster und erfreute sich an tausend Sternen. Es
war Nacht. Er dachte über seinen Traum nach, er erschien ihm klar.
Und
hatte ihm Erinnerung gebracht: Seine Freunde Frank, John, Claudia, Peter und
seine Kindheit. Sie waren Wirklichkeit. Sie gehörten zu seinem Leben. Gabriel
lag in seinem Bett, belauschte die Nacht und dachte über seinen Traum nach. Er
fühlte sich sehr gelöst und frei,
ihm
ging durch den Kopf, das er morgens durch das Kinderlachen geweckt werden würde.
Noch mehr Erinnerung würde zurückkommen. Elisabeth hatte gesagt, der Traum der
ersten Nacht würde in Erfüllung gehen. Der Gedanke trieb seinen Geist noch
eine Weile zum spielen an, bis er wieder in die Nacht eintauchte.
Er
wurde geküsst, öffnete die Augen und sah in Annas Gesicht.
"Komm,
los aufwachen." Sie rüttelte und zerrte ein bisschen an ihm, wie sie
es gern mochte. "Siegmund ist schon weg. Er wollte Dich nicht
wecken."
Kurz
schloss Gabriel die Augen... "5 Minuten noch, ich hatte so schön geträumt."