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Lumane
Lumane hatte ein rundes Gesicht. Die Kreolin war jung, jünger als Sieben.
Genauer wusste das niemand. Schon gar nicht Lumane. Sie war alleine gekommen.
Barfuss, denn sie besaß keine Schuhe. Das war nichts besonderes. Wenige Kinder
hatten Schuhe. Warum sie gekommen war, ahnte jeder. Woher wusste keiner. Sie war
einfach da. Sie stand am Straßenrand und beobachtete die anderen. Die kümmerte
das wenig. Oft kamen unbekannte Kinder. Obdachlose Kinder. Ihre Eltern waren
meistens gestorben. Viele waren erschossen worden. Die Namen der Mörder, sie
waren Soldaten, Rebellen, Banditen und Polizisten, hatte der Bürgerkrieg mit
seinen Wirren verschleiert. Die Unerschossenen verendeten an Krankheiten und am
Wetter. Die hatten Namen: Malaria und Cholera hießen die einen, die anderen
hießen Jeanne oder Gustav. Die letzteren waren Stürme und hatten Ortschaften
verschluckt, Menschen in schlammigen Bächen ertränkt oder mit Windkraft
erschlagen.
Lumane war vorsichtig. Keiner konnte sie mehr bestehlen, denn sie besaß wenig.
Ein rotes T-Shirt, eine gelbe Hose und eine Unterhose. Alle waren schmutzig. Die
wollte keiner. Dennoch beobachtete sie die Menschen auf der Straße genau.
Schliesslich gab es böse Menschen. Männer,die sie entführen könnten. Zum
Arbeiten. Sie hatte schon Kinder gesehen, denen das passiert war. Die lagen,
wenn sie nicht mehr arbeiten konnten auf der Straße. Ausgehungert und fast tot
geprügelt. Manchmal starben sie dort. Selten half jemand. Meist begafften die
Erwachsenen diese Kinder, betrauerten deren Leid und gingen hilflos weiter.
Schließlich hatte hier jeder seine Sorgen. Die hungernden Kinder daheim. Der
eigene Hunger. Die Arbeitslosigkeit. Die fehlende Aussicht.
Lumane wollte trinken und sich waschen. „Wer sich wusch, den plagen weniger
Tiere.“, wußte sie. Das gewaschen betteln leichter fiel, weil Erwachsene saubere
Kinder gegenüber dreckigen bevorzugten, hatte sie auch vom Leben gelernt. Dafür
brauchte die Kreolin keine Schule. Das Wasser floss aus fünf Rohren an der Mauer
in einem schwungvollen Bogen in die Betonrinne. Davor standen Männer und wuschen
sich, während Frauen Wasserkanister füllten. Lumane kratzte ihren
schwarzgelockten Kopf und sah sich noch einmal vorsichtig um. Unachtsamkeit war
gefährlich. Es schien ihr sicher genug. Sie traute sie sich, die Straße zu
überqueren, ging zu den anderen und reihte sich hinter einen großen Mann. Er
wirkte ruhig und freundlich. Der Mann stand wie die anderen in Boxershorts und
rieb seinen Körper sorgfältig mit Wasser ab. Ein Junge kam mit seiner Mutter
daher. Er sah Lumane an. Sie blickte schnell weg. Wenn sie Kinder mit Eltern
sah, wurde sie schnell traurig. Die erinnerten sie daran, das sie keine hatte.
Sie erinnerte sich jedenfalls an keine. Manchmal glaubte sie, daß sie von den
Geistern käme. Eine alte Frau hatte ihr das erzählt. Darüber hatte Lumane schon
oft nachgedacht. Das gefiel ihr nicht, denn sie wollte kein Geist sein. Doch an
anderen Tagen, besonders an den verregneten, wenn sie unter einem Auto
verharrte, um sicher im Trockenen zu sein und Lumane sich allein fühlte und ganz
traurig war, weil sie bemerkte, wie sehr es ihr fehlte Eltern und eine Familie
zu haben, tröstete sie der Gedanke ein wenig, ein Geist zu sein. In diesen
Momenten schloss sie ihre Augen und öffnete ihr Herz für ihre Geisterfamilie.
Sie fühlte deren Liebe, als wären sie alle bei ihr. Und manchmal, während sie so
weinend da lag, überfiel sie das Gefühl sich an ein vertrautes Lachen zu
erinnern. An das Lachen ihrer Mutter. Das machte sie glücklich. Der Junge stand
immer noch da bei seiner Mutter und sah sie an. Die Mutter unterhielt sich
aufgebracht und schlug dabei immer wieder auf den Wasserkanister, den sie noch
füllen musste. Lumane wollte wegblicken, aber die Hand auf der Trommel schlug
aufdringlich einen lauten Takt. Lumane blickte zu dem Jungen. Irgendetwas
stimmte nicht mit ihm. Er wirkte ängstlich. Seine Mutter trommelte weiter.
.
Als der große Mann vor Lumane sich mit dem Waschen fertig war, seine Jeans über
die nasse Boxershorts gezogen, sein T-Shirt über die Muskeln gespannt und sein
Kopftuch umgebunden hatte, scherzte der Mulatte mit seiner lauten, dunklen
Stimme. Lumane verstand den Witz nicht. Weil alle lachten, lachte sie mit. Die
Frau daneben bespritzte den Mann empört mit Wasser und kicherte. Der schrie auf
und wehrte sich. Die Wasserschlacht begann. Alle machten mit. Eine
Wasserschlacht gefiel allen Menschen. Da gab es nur Gewinner. Alle hatten Spaß.
Lumane spritzte fleissig mit, und als das Strassenspiel beendet war, fühlte sie
sich vergnügt und alle waren nass. Das war schön gewesen. Das Spiel hatte sie
befreit. Zufrieden streckte Lumane ihre Arme und und das Wasser lief über ihre
dunklen Haut zu ihren hellen Handflächen. Lumane wusch erst ihre Hände. Sie war
sorgfältig und geduldete sich mit dem Trinken. Obwohl ihr Durst stark war. Doch
Sauberkeit war wichtig. Wegen dem Durchfall. Dann trank sie endlich. Das Wasser
war kalt und füllte ihren ausgetrockneten Mund.. Sie wurde gierig. Es war warm
unter der karibischen Sonne. Getrunken hatte sie schon lange nichts mehr. Lumane
wusch auch ihre Kleidung. Das rote T-Shirt und die gelbe Hose. Als sie den Dreck
von ihrer Kleidung abfließen sah, vergegenwärtigte sich ihr das verdrängte
Geschehen. Instinktiv stützte Lumane sich gegen die Mauer der öffentlichen
Wasserstelle, um nicht zu fallen. Durch ihren Kopf fraß sich der braune
Sturzbach, der vor langer Zeit nach dem Orkan aus dem Nichts aufgetaucht war.
Ihre Hände suchten Halt. Sie hörte einen Schrei. Ihre Mutter rief sie und
verstummte wieder im lauten Wind. Der Wind brachte dem Kleinkind Regen und
Schmerzen. Es war in die Luft gerissen worden, es schleuderte einige Meter und
verfing sich in einem Fischernetz, das zum Trocknen aufgehängt war. Das Kind
hörte sich nach ihrer Mutter schreien. Und dann wieder Wind. Er rauschte laut in
ihr, während das Wasser den Schlamm durch die Rinne spülte. Lumanes Erinnerung
vertiefte sich. Nach dem Sturm erwachte sie. Alles war still gewesen. Nur sie
war da. Kein Haus, keine Boote, keine Menschen. Nur sie und der Schlamm. Sie war
das erste Mal allein gewesen. Die anderen waren weg. Einfach verschwunden.
Lumane öffnete wieder ihre Augen. Sie hielt sich fest, ihr Körper war über die
Wasserstelle gebeugt. Das Wasser floss über ihren Rücken. Noch immer krallten
sich ihre kindlichen Finger an der Mauer fest. Lumane versuchte die Erinnerung
abzuschütteln. Es misslang ihr. Die Kälte blieb mit dem Bild von Schlamm und von
Verwüstung. Sie sah sich um. Die Menschen um sie herum wirkten besorgt. Lumane
riss sich zusammen. Sie nahm ihre Kleidung aus der Rinne und wrang sie aus. Sie
zog sie ihr rotes T-Shirt und die gelbe Hose wieder an. Die Nässe würde schnell
auf Lumanes Haut trocknen. Die Kreolin schüttelte sich kurz, genoß die Kühle der
nassen Kleidung, weil sie das Gefühl kannte. Anders als die innere Kälte war es
ihr vertraut. Das ordnete ihre Gedanken. Bis Lumane zu zittern begann. Es war
entsetzlich. Lumane erschrak. Ihr Körper bewegte sich heftig. Alle Knochen
wurden durchgerüttelt und als Lumane auf die Wasserrohre aufsah begriff sie. Das
war nicht sie, die zitterte. Die ganze Welt zitterte. Wie bei dem Fieber im
letzten Jahr. Nur diesmal war alles anders. Die Menschen um sie herum schrieen.
Lumane verharrte. Die Erde wackelte. Nichts blieb stehen. Häuser stürzten ein,
Autos kippten und Bäume fielen, genau wie der Mann neben ihr, um. Sie rührte
sich nicht. Er fiel an ihr vorbei. Die Zeit schien still zu stehen. Das Wasser
war versiegt. Stattdessen fiel Staub auf sie herab. Lumane wollte schreien. Doch
der Staub der zerfallenden Welt verschloss ihren Mund. Dann war es wieder still.
Genauso plötzlich, wie das Erdbeben begonnen hatte, war es zu Ende gegangen. Nur
stand sie in keiner Straße mehr. Im Gegenteil, um sie herum war alles leer.
Lumane sah sich um. Im Staub lagen die Menschen, die noch kurz zuvor gelacht und
gespielt hatten. Jetzt bewegte sich keiner mehr. Lumane war wieder allein. Sie
hob ihren Fuß. Vorsichtig, weil sie Angst hatte, sich verletzten zu können, und
ungläubig, weil es so unwirklich war, das sie die einzige war, die sich bewegte.
„Nur ich und der Staub.“, sprach sie leise in die Stille und vermutete:
„Vielleicht bin ich doch ein Geist.“ Lumane ging weiter. Der Junge war noch
immer bei seiner Mama. In seinen Augen war keine Angst mehr. Sie blickten Lumane
an, als sie vor ihm stand. Er schenkte ihr seine Schuhe. Es waren schöne Schuhe.
Weiße Schuhe. Sie passten Lumane gut. Sie bedankte sich bei ihm und schloss
seine Augen. Er sagte nichts. Lumane ließ ihn im Staub zurück und ging weiter.
Dorthin wo sie vorhin die Kirche gehört hatte. Da wollte sie hin. Zur Kirche.
Lumane hatte Hunger. Um fünf würde in der Kirche das Essen ausgegeben werden.
Das kleine Mädchen verschwand im Staub.
von Martin Teuschel Zum Seitenanfang | |
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