 | Sie war
einer der Funken fürs Auge, die aufblitzen, wenn man zu lange in die
dunkle, graue Masse blickt. Schwarze, lange Haare lagen glatt auf dem beigen Schal und verbreiteten dort seidigen Glanz. Der Schal, nicht
nur ihr verspieltes Accessoire, sondern auch Schutz gegen die
winterlichen, deutschen Temperaturen. Lucia liebte dieses Land, schon
als Kind wurde sie durch die Gebrüder Grimm, gebunden, später kamen
Goethe, Strauss und die anderen hinzu. In Scalea war sie
aufgewachsen: Calabria, Italia. Die Stufen vor ihrem Haus führten direkt
ins Meer. Nicht übers Meer wollte sie, nein, ihr Weg, führte sie durch
Sprachkurse und gründliches Studium deutscher Literatur über die Berge
nach Berlin. Als sie hier war, war sie entsetzt: Ihr Deutsch reichte noch
nicht für die Aufnahmeprüfung an der Universität. Sie musste länger in
Deutschland bleiben, die Sprache lernen. Und dort war es im Winter so
kalt, das der Schal, ihre beige Mütze, die gleichfarbigen
Handschuhe, ihr dicker, brauner Mantel und die hohen schwarzen, viel zu
dünnen, italienischen Stiefel kaum reichten, die Temperaturen vergessen zu
lassen. Auf viele deutsche Betrachter wirkte sie sicherlich etwas
überkandidelt. Wie ein Mädchen aus gut situiertem Haus, vielleicht etwas
verwöhnt. Deutsche lassen sich schnell durch Kleidung täuschen, sie
vergessen es leider immer wieder.
Lucia kam gerade vom Sprachunterricht, den sie in Berlin gab. 300
Euro, im Monat, davon musste sie Essen, Kleidung, Bücher, die Wohnung, und
und ihre Fahrten nach Italien zahlen. Sie liebte ihre Familie, deshalb
besuchte sie sie ein- oder zweimal im Jahr. Am liebsten dreimal. Und dort
sah man sie an, mit dieser Kleidung, die Deutsche so beeindruckte, ja
sogar zu argwöhnischen Gedanken veranlasste und wusste: Sie hatte nichts.
Ihr Onkel scherzte: "Früher gingen wir nach Deutschland und brachten Geld
hierher, heute bringt ihr es wieder zurück." Er gab ihr 100 Euro. Und dort
auf dem Markt kaufte sie für wenig Geld die schöne Kleidung, die in Berlin
oft Neid weckt und zu wenig wärmt.
Die Kälte und Müdigkeit trieben Lucia auf den Alexanderplatz zu. Sie
konnte nicht mehr viel denken: Arbeit suchen, Arbeiten, Ü-Bahn, Arbeit
suchen, endlich nach Hause, lernen, schlafen. Mehr blieb nicht in ihrem
zauberhaft hübschen Gesicht, dessen Züge durch gekonntes Make-up verziert
waren. Dem aufmerksamen Beobachter, wäre die Müdigkeit sicherlich
aufgefallen. Doch aufmerksame Beobachter gibt es nicht oft. Diesmal nur
einen. Und der hatte etwas ganz anderes im Sinn.
Bernd, stand schon seit mehr als einer Stunde herum. Er langweilte
sich. Arbeit hatte er keine, eigentlich hatte er auch keine Lust zu
arbeiten. Klauen lief viel besser. Heute morgen fand er in Muttis Tasche
noch einen "Zwanni", danach stritten sie sich über Ausländer. Seine Mutter
behauptete immer, das wenn die nicht da wären, genug Arbeit für alle wäre.
Er mochte ihre Einstellung nicht. War ihm zu viel Nazi. Und Nazis kann man
ruhig beklauen, dachte er später als er den Zwanziger zwischen seine
Finger rollte. Er ärgerte sich über seine Mutter. Warum hatte die immer so
viele Vorurteile? Und dann berührten seine Augen dieses braune Geschöpf,
roch ihre schwarze, kleine Handtasche nicht nach wahren Werten? Er wartete
kurz, ließ die "Kapitalistenschlampe" auf die Unterführung zum
Alexanderplatz gehen, rannte los, riss ihre Tasche, und stieß die junge
Frau die 24 Stufen hinunter.
Genauso schnell, wie er aufgetaucht war, verschwand er wieder in den
Strassen Berlins.
Lucia fiel die Stufen hinunter, sie überschlug sich, die Winterstreu
riss sich in Hände und Knie, und hinterließ mit matschigem Schnee
schmutzige Flecken auf ihren Mantel.

Sie blieb unten liegen. Ihr ganzer Körper schmerzte. Sie hatte Angst sich
etwas gebrochen zu haben. Sie konnte doch nicht zum Arzt. Sie hatte keine
Krankenversicherung. Ihr Make-up verlief unter ihren Tränen, die sich in
ihren langen Augenlidern verfingen. Sie starrte auf ihre Hände: Sie waren
dreckig und blutig. Die kleinen Steine hatten Handschuhe und Lucias Haut
aufgerissen.
So saß sie weinend am Fuß der Treppe. Ihre Schmerzen verboten ihr sich
zu erheben und sie bat die Vorübergehenden um Hilfe. Doch keiner half. Die
Blicke streiften sie kurz und wichen weg. Die Gedanken bildeten ein
wirres, feindseliges Netz: "Schon wieder 'n Penner." - "Versteht die
nicht, das wir dafür arbeiten gehen." - "Wie dreckig die ist, sollte sich
mal waschen." - "Ob die es für'n Zehner tut?" - "Schämt die sich denn
nicht." - "Was ist das denn jetzt für 'ne Masche?" - "Schauspielunterricht
gehabt? überzeugend!" - "Kann die nicht aus dem Weg gehen?" - "Man sollte
die Polizei rufen." - " Die Armut wird immer schlimmer, wohin soll das
noch führen." - "Gut, das ich noch Arbeit habe." - "Typisch Zigeuner,
überall herumjammern." - "Ist das schlimm." - "Dem nächsten gebe ich was,
jetzt hab ich's eilig." - "Die arme Frau." - " So jung, die kann doch
arbeiten gehen." - "Ey, was ist mit der? Die braucht Hilfe."
Mustafas Gedanken unterbrachen den Strom. Er beugte sich zu ihr hinunter:
"Was ist los mit Dir?" Lucia weinte: "Hilfe, ich brauche Hilfe!" Mustafa
legte seinen Arme auf die Schultern des fremden Mädchens. Er umarmte sie,
er wusste nicht warum er es tat, er tat es einfach. Und es wirkte. Lucias
Weinen verebbte: "Ich bin überfallen worden. Mein Pass, meine
Aufenthaltserlaubnis, alles ist weg."
"Aufenthaltserlaubnis", dachte Mustafa wusste um ihre Bedeutung.
Stundenlanges Anstehen beim Ausländeramt, Schikanen deutscher Beamter
erdulden, auf keinen Fall aufbegehren, gegen die fast unheimliche Macht
dieser kleinen Beamten, die über das Leben tausender Menschen entschieden.
"Du blutest ja", stellte er fest. "Komm lass uns weggehen. Du musst zur
Polizei. Wegen dem Pass." "Ich kann nicht aufstehen, meine Beine tun so
weh." Mustafa, sah ihre Beine an und untersuchte sie, als würde er etwas
davon verstehen. Lucia genoss seine Aufmerksamkeit, die ihre Verzweiflung,
die durch die Vorübergehenden, an ihrem Leid desinteressierten Menschen
erwacht war, verdeckte.
"Krankenwagen", vernahm sie durch den Schleier ihres Leids. "Nein,
keinen Krankenwagen, ich habe keine Krankenkasse." Mustafa verstand. So
erging es vielen in diesem Land. Ausländer und Deutsche, die nicht zum
Arzt gingen, weil sie ihn nicht bezahlen konnten. Dieses "Zwei -
Klassensystem" nannte sich sozial gerecht. Er verachtete das Land
wegen dieser Heuchelei. Sein Land, er kannte nur dieses.
Sein Name kam aus dem Land seiner Grosseltern. Er kannte es nur von
Bildern und Erzählungen. "Komm, ich helfe Dir, versuchen wir aufzustehen.
Er stützte Lucia. Sie hatte entsetzliche Schmerzen, doch sie biss
ihre Zähne zusammen.
Mit seiner Hilfe schaffte sie es. Sie stützte sich auf ihn. "Und? Geht
doch schon..." Mustafa schenkte ihr ein Lächeln. "Kannst Du gehen?" Ihr
Fuß schmerzte schrecklich. Ein tiefer, dumpfer Schmerz. Doch irgendwie
ging es. Langsam. Ein paar Schritte später erinnerte Mustafa sich an seine
Arbeit. "Ey, ich muss mal eben telefonieren. Kannst Du alleine stehen."
Lucia versuchte es. Es gelang. Mustafa nahm sein Mobiltelefon und wählte
eine Nummer. "Ey, Chef. Ja, ich bin's Mustafa. Tut mir leid. Ich komm
später. "-" Muss einem Mädchen helfen." - "Ja, ich weiß, das ich
verheiratet bin" - "Nein, ich mach keinen Scheiß" - "Nee, die wurde
überfallen" - "Hier am Alex." - "Ja, ich komm dann." - "Nein, Sie kann
nicht alleine laufen" - "Bis dann, Chef."
Er verdrehte die Augen. Sein Chef war sauer. Na ja, muss er wohl
durch. Das hier war wichtig. Für das Mädchen. Wie hieß sie eigentlich?
"Ich bin Mustafa", stellte er sich vor "Und Du?" - "Lucia". Sie lächelten
einander an. "Komm, du musst zur Polizei. Die stehen da vorne am Alex.
Gehen wir hin." Die Treppen wurden wieder mühsam, die beiden sprachen
nicht mehr viel.
Lucia dachte über die ganzen Menschen nach, die sie da liegen gelassen
hatten, und wunderte sich. In Italien, da hätte sie sofort Hilfe bekommen.
Keiner hätte sie liegen lassen, dessen war sie sicher. Sie liebte
Deutschland immer noch, aber seit sie hier lebte, veränderte sich ihre
Leidenschaft. Sie erkannte zunehmend, das es in Deutschland Gewohnheiten
gab, die sehr kalt und unfreundlich waren. Sie wünschte sich, dass sich
das ändern könnte. "Brauchst Du Geld für die Bahn?", fragte Mustafa.
Verschämt bejahte sie ihm. Er gab ihr zehn Euro und seine Telefonnummer.
"Falls Du doch einen Arzt brauchst. Meine Freunde kennen welche, die
lassen mit sich reden. Auch ohne Krankenkasse." Was sollte sie tun, sie
nahm beides. Ohne Ticket, ohne Pass Bahn fahren, das wollte sie auf keinen
Fall. Sie wollte nicht noch mehr Ärger.
Mustafa verabschiedete sich. Sein Chef war bestimmt sauer. Aber was
blieb ihm übrig, schließlich hatte er Herz.
von Martin Teuschel  Zum Seitenanfang 
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