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Neulich in der Ewigkeit mühte sich die Sonne die Nacht zu verdrängen. Landwärts
war das leicht. Nur in der Stadt wehrten Häuser standhaft das grelle Licht ab.
Zu dieser blauen Stunde trällerten Vögel aus den Bäumen und Gebüschen am Platz
vor der kleinen Kirche. Das Gras war trocken. Die Wärme des Vortages ließ keinen
Tau entstehen und so lagen Sandkörner unbeteiligt auf dem Spielplatz herum, bis
ein Spatz sich auf sie warf. Der Vogel genoss das Bad in der grossen Staubwolke.
Dabei beachtete er nicht das grosse Holzhaus, in dem tagsüber Kinder spielten.
Das Holzhaus war von vorne dreieckig. Die Grundplatte wurde einen halben Meter
über dem Boden von den zwei Dachschrägen gehalten. Das Dach bedeckte das Innere
oben und seitlich in einem, um vor Regen zu schützen. Das war im deutschen
Sommer, der mehr als Dürre kannte, wichtig. Halbierte Rundhölzer gaben auch den
Jüngsten den nötigen Kletterhalt. Nachts profitierten davon Erwachsene, die auf
ihren Heimweg hielten, um sich in ihrer Kinderstube zu amüsieren.
Mary und Lucy wußten genau wie das ging. Sehr betrunken unterhielten sie sich
spassig und tänzelten sinnfrei von einem Thema zum nächsten. Sie erinnerten sich
an die Streiks zur Oskarverleihung und Brad Pitts souveränes Schauspiel im
Jessie James Film.
„Wie hieß der noch?“, fragte Mary die betrunkene Schauspielerin. „Die Ermordung
des Jessie James durch den Verräter ... ?“ Lucy warf sich nach vorne. Ihr Arm
fiel ungelenk vor bis der Unterarm sich fing und die Hand in ihre Haare hob.
Dort raufte sie ein wenig und hielt einige Strähnen fest, um ihr Gesicht aus
Marys ungewaschenen Schoss zu ziehen. Dabei riß sie den Kopf in den Nacken und
sah ihrer Freundin in die Augen. Die nahm ihre Hand und streichelte Lucy mit
übertriebenen Gesten. Erst über den Kopf, dann zu Lucys Wangen und letztlich zog
sie Lucys Gesicht ganz nah an das ihre. Marys Hände umkreisten Lucys Kopf
seitwärts zum Kinn und hielten die Blondine, deren Augen weit geöffnet waren,
fest. Jetzt beugte sich Mary zu Lucy und stubste ihre Nase auf Lucys. Lucys
Gesicht trotzte den durch Trunkenheit unkontrollierten Entspannungen und
fleckigen Hautrötungen mit einer Schönheit, die anderen nur bei Kerzenschein
zuteil wurde. Mary hielt das Antlitz in ihren Händen, als wollte sie Lucy
küssen. Vielleicht hatte sie sogar kurz daran gedacht. Und wenn schon: Sie
liebte ihre Freundin vom ganzen Herzen. Doch Mary küsste Lucy nicht.
„Die Ermordung des Jessie James durch den Verräter...?“, wiederholte sie,
betonte dabei jede Silbe und fuhr fort: „Cherie, wie hiess der Verräter denn
gleich noch mal?“ Lucy pustete durch die geschlossenen Lippen und wäre Mary
nicht selbst so betrunken gewesen, hätte sie sich über die geprustete Nässe
beschwert. Stattdessen lachte die brunette Ballerina und verdrehte ihre Augen.
Und sie führte die Bewegung fort, weil Lucy das liebte. Marys Gesicht folgte den
Augen. Mund und Nase drehten sich, dann das Kinn und durch die Bewegung des
gesamten Kopfes erschien es Lucy, als drehten sich selbst Marys Ohren. Lucy war
fasziniert, ihre Freundin zeigte graziös, dass sie ihren Körper beherrschte.
Selbst jetzt als Trunkene, wusste Lucy um die Grobschlächtigkeit ihrer eigenen
Bewegungen. Zwar konnte sie schnell im Wechsel mit anderen Schauspielern und mit
Hilfe ausgereifter Handlungssequenzen ein Publikum durch ein Schauspiel berühren
und einbinden, aber der Grazie einer Ballerina musste sie ihre Waffen strecken.
Die Ballerina Mary erreichte mit kurzen Bewegungen, die so Fremdartig wirkten,
das jeder Betrachter widersinnigerweise so berührt wurde, das er der Ballerina
sofort von ganzem Herzen vertraute. Er spürte die Echtheit, während er bei der
Schauspielkunst stets vor Betrug gewarnt blieb. Lucy war hin und weg und liess
sich wieder nach vorne fallen.
Nicht nur die Mädchen waren von der Nacht in den Tag gestrandet. Neues Treibgut
wurde an den Morgen gespült. Keine dreißig Jahre zählte der Mann. Sein Äusseres
verriet seine Leidenschaft. Er trug Cowboystiefel, blaue Jeans und eine schwarze
Lammfellweste über seinen nackten Oberkörper. Dazu vollendeten ein rotes
Halstuch und ein schwarzer Cowboyhut seine stilgerechte Kleidung. Obwohl er sehr
betrunken war, konnte er die gellenden Stimmen der lachenden Mädchen gut hören.
Seine Müdigkeit verschwand und seine Schritte, vom Fleisch gelockt, änderten den
Kurs zu seinem Heim nur unwesentlich. Auf dem Spielplatz staubte der trockene
Sand unter seinen Füßen und bedeckte seine Stiefel fein.
„Ey, ihr Hübschen, was macht ihr denn da?“, rief der Mann von unten. Er stand im
Sand. Die Mädchen sahen auf ihn hinab. Lucy zeigte sofort Interesse. Sie mochte
muskulöse Männer. Sie liebte die Kraft, die von ihnen ausging und genoss es von
ihnen auf den Armen getragen zu werden. Sie zögerte nicht und rief dem Fremden
entgegen: „Komm doch rauf!“ Der Gestrandete folgte der Einladung. Als hätte es
seine Trunkenheit nie gegeben, schwang er sich mit drei kräftigen Tritten auf
das Holzhaus. Oben angelangt setzte er sich hinter Mary, die weiterhin Lucy
zugewandt blieb. Lucy hatte ein neues Publikum. Sofort stellte sie sich und ihre
Freundin vor: „Lucy, Schauspielerin“ Dabei zeigte sie mit beiden Händen auf sich
und öffnete sie dann Küsse werfend zu ihrer Freundin. Sie fuhr fort „Mary,
Ballerina“. Freundlich legte sie ihren Kopf seitwärts, sah Mary an, hielt kurz
inne und wandte sich wieder dem Cowboy zu. Ihre Augen wanderten zu den
Augenwinkeln, bevor ihr Gesicht folgte. Galant verbeugte sich der Mann und
stellte sich als Robert vor. Natürlich kam von Lucy: „Robert, Du hast mein Herz
erobert.“ Robert lachte herzlich, obwohl oder gerade weil er diese
gewinnbringenden Worte gut kannte. Ihre Fantasielosigkeit kreidete er nicht an.
So waren die Menschen halt. Sie mochten es einfach. Während er saß und zuhörte
bemerkte er das der letzte Whisky zurückkehrte. Er fühlte sich sehr betrunken
und konnte nach kurzer Zeit Lucys sprunghaften Monolog nicht mehr folgen.
Ausserdem schien sie ihm etwas verrückt. Er tröstete sich mit Wodka darüber
hinweg und bewegte die Schauspielerin zu neuen Spielen: Er schickte sie in den
Trainingsparcour des Spielplatzes. Lucy absolvierte ihn ungelenk: Sie kletterte
die Rutsche hinauf, sprang durch Schaukeln, balancierte über die Wippe und
besonders auf den Kletterpfählen machte sie eine bedauernswerte Figur. Nach
einigen Stürzen, kehrte sie unbekümmert zurück, und setzte sich wieder zu Mary
und Robert. Jetzt sprach sie mit Pantuffle. Pantuffle war ein kleines
unsichtbares Tier, das nur sie, anders als Robert und Mary, sehen konnte. Lucy
kommandierte das Tierchen auf französisch. Robert und Mary spielten mit. Lucy
wollte das aber nicht. Sie bestand auf das alleinige Recht an ihrer
Halluzination und warf Mary sogar vor, daß sie Pantuffle verwirre. Robert fuhr
sie an, das er Pantuffle nicht „verarschen“ soll. Er hatte ihm etwas zugerufen.
Lucy war böse. Schließlich sei Pantuffle doch schon oben, auf ihrem Schoss und
nicht mehr unten bei seinen Freunden. Roberts Bedenken wuchsen. Doch Lucy,
obwohl sie der Realität sehr entrückt war, erkannte das und fing seine Gedanken
mit einem brillianten Trick ein. Ihre Worte wechselten vom Pantuffle zu ihrer
Weiblichkeit: Zu ihrem Busen. Sie blickte an Mary vorbei und drückte ihren
Ausschnitt weit vor und kommentierte das: „Ich habe schöne Titten.“ Robert
lachte und stimmte ihr zu, doch als sein Finger in die Nähe kam, schwang Lucy
ihr Bein über das Dach und ließ sich über die Rundhölzer der Dachschrägen in den
Sand poltern. Glücklicherweise hatte der Alkohol sie so entspannt, dass sie sich
abgesehen von einigen Abschürfungen nicht verletzte. Sie stand auf und lehnte
sich mit letzter Kraft im beeindruckenden Schauspiel gegen die Dachschräge und
sah mit ihren wunderschönen blauen Augen zu Mary und Robert hoch. Mary
applaudierte. „Eine neugeborene Janis Joplin!“, rief sie. Robert hatte keine
Ahnung von Janis Joplin. Er stimmte einfach in den Applaus ein und bemerkte: „Du
hast wunderschöne Augen“ „Das hat ihr bestimmt noch niemand gesagt.“, meinte
Mary schalkhaft. „Und ob. Bestimmt jeden Tag.“, sagte Robert. Das klang wie ein
Kompliment, war aber keins. Denn Robert, Trunken oder nicht, wußte sehr wohl,
daß es den Schönsten oft charakterliches Verhängnis war, das sie um ihre
Schönheit wussten. Doch darüber sprach er nicht. Konnte er nicht, es hätte seine
Absicht zunichte gemacht. Lucy lehnte sich noch einmal zurück, ganz weit nach
hinten. Robert sah durch den Ausschnitt ihre Füße. Ganz zu schweigen von dem was
er darüber sah. Er wischte sich über den Mund. Die Schauspielerin verschwand im
Holzhaus. Drei minus eins macht zwei. Mary und Robert kamen ins Gespräch. Das
heißt Mary fragte Robert aus. Alter, Beruf, Wohnstatus, Partnerschaft, sexuelle
Orientierung und Religion. „Glaubst Du an Gott?“ Robert war Cowboy. Obwohl in
Berlin wohnhaft, war er mit den Traditionen durchaus vertraut und fühlte sich
wie die meisten anderen Cowboys dem Christentum verbunden. Das bekannte er offen
und stolz. Mary sagte, das sie auch an Gott glaube. Wie aus dem Off kam von
Lucy: „Ich nicht. Hier unten ist die Hölle. Kommt doch zu mir.“ Obwohl Mary mit
ihm sprach, hatten Robert Lucys Brüste zugesagt und er war bereit den Abstieg zu
wagen. Lucy schaute raus. Von unten nach oben blickend. Mit den Wimpern
schlagend lockte sie: „Kommt doch, kommt zu mir in die Hölle.“ Mary meinte, man
solle das Leben genießen. „Das ist das was Gott will. Jeden Moment sollen wir in
vollen Zügen genießen.“, behauptete sie. „Dem ist nichts entgegensetzen.“, fand
Robert. Er lehnte sich nach vorne auf Mary und schwang seine Arme als würde er
fliegen. „Wie die Engel im Himmel.“, lachte er. Mary wurde nach vorne gedrückt
und auch sie breitete ihre Flügel aus. Lucy fühlte sich in der Hölle allein. Sie
kam heraus und streckte ihre Arme empor. „Kommt runter.“, rief sie. „Komm Du
doch rauf.“, rief Robert und streckte Lucy seine Hand entgegen. „Ich reich Dir
die Hand, mein Leben“, zitierte er laut lachend. Lucy nahm ihn beim Wort. Sie
gab ihm die Hand und beendete ihre Ankündigung :“ wenn Du es schaffst mich
raufzuziehen...“ nicht. Robert fragte nicht lange und griff auch ihre zweite
Hand. Lucy macht sich extra schwer. Doch weil ihr Körper über die Rundhölzer
geschliffen wurde, entschloss sie sich Robert zu helfen. Die plötzliche
Erleichterung störte sein Gleichgewicht. Während er zuvor Lucy gehalten hatte;
suchte er jetzt an ihren Armen Halt. Ein kräftiger Ruck ging durch die beiden.
Roberts Füße wackelten auf dem Dachfirst. Er trat zurück. Lucy ruckelte hoch,
bis Robert sein Gleichgewicht wiederfand und beide Füße gegen die Dachschräge
stemmte. Er zog weiter, Lucys Busen und Bauch streiften über den First. Als ihr
Becken angekommen war, bildete sie die Dachform mit ihren Körper nach. Robert
klatschte mit beiden Händen kräftig auf ihren Hintern. Er konnte nicht anders.
Ihr Rock war hochgerutscht. Lucy quietschte gleichermassen entsetzt und vergnügt
auf. Robert ließ sie weiter gleiten. Kopfüber die andere Seite am Dach hinunter.
Erst als er ihre Füße zwischen seine Beinen klemmte und keine Hand mehr frei
hatte, wurde ihm klar, das er Lucy nicht mehr halten konnte. Er sah hinunter.
Etwas mehr als ein Meter fehlte ihr zum Boden. „Hände ausstrecken!“ , rief er
ihr zu, sah noch einmal hinunter und öffnete seine Beine. Sie kreischte, fiel
und landete im Sand. „Du Arschloch“, schrie sie wütend. Mary lachte. Robert
zeigte sich ein wenig besorgt und stieg hinab um Lucy zu helfen.
Glücklicherweise ging es ihr gut. Sie ging in das Haus hinein. Lockte Robert
noch einmal. Er folgte ihr. Mary wurde langweilig. Auch sie verließ den Himmel
und folgte den beiden anderen in die Hölle. Robert saß auf einer Kante, seine
Beine hingen raus. Hinter ihm sass Lucy. Ihre Beine waren weit geöffnet, der
Rock hochgerutscht, ihren Finger hatte sie im Mund und den Kopf geneigt. So sah
sie Robert an. Der hörte Mary zu: „Der Himmel ist langweilig. Immer ist alles
gleich schön“, fand sie. Robert beschwichtigte. „Im Himmel singen die Engel und
springen musizierend von Wolke zu Wolke. Und jeder fühlt sich, wie in den
Momenten innigster Liebe.“ Lucy behauptete, daß sie lieber ihre Freunde sähe.
„Nein, das würdest Du nicht.“, entgegnete Robert: „Stell Dir vor, du bist so
richtig verliebt. Da liegst Du neben Deiner Liebe und denkst dir: Dieser Moment
sollte nie vorübergehen. So wie dieser Moment fühlt sich der Himmel an. Und der
ist ewig. Da bin ich mir sicher.“ Mary zweifelte:
„Langweilig würde es trotzdem.“ Das fand Lucy ohnehin. Sie schlenderte ihr Bein
hin und her. Roberts Aufmerksamkeit wandte sich wieder ihr zu. Er glotzte auf
ihr Höschen und als der Teufel ihn ritt, griff er nach ihrem Schenkel. Fest
hatte er ihn in der Hand und rutschte näher nach. Lucy war alarmiert. Robert war
zu weit gegangen. Sie schrie und trat kräftig zu. Einige Tritte trafen Robert
empfindlich. Er war überrascht, und das Haus war zu eng um auszuweichen. Unter
Schmerzen ging er raus. Stellte sich wieder davor. Doch Lucy wollte ihn nicht
gehen lassen. Kam ganz dicht an ihn heran. Legte ihren Arm um seinen Hals, zog
ihn zu sich. Diesmal missfiel es Robert. Doch er war verwirrt. Seine Rute
arbeitete anders als sein Verstand. Er blickte Lucy an. Die schubste ihn wieder
weg. „Vapiss Dir“, rief sie. Jetzt war sie eine Furie. Robert war es leid. Er
tippte an seinen Hut, wollte sich verabschieden, als Lucy wieder Engelszungen
sprach. Trotz Trunkenheit verabschiedete er sich. Endgültig. Er ging weg.
Flaschen verfehlten ihn knapp und zerplatzten auf dem Weg neben der Sandkiste.
Robert ging. Sein Kreuz war getroffen. Der Schmerz begleitete ihn noch eine
Weile.
von Martin Teuschel Zum Seitenanfang | |
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