Unkommerzielle Arbeiten von John-Martin Teuschel (JOMT) bis 2010

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www.berlinerplakate.de: Nachts. Da trafen sich Andreas, Axel und Alexander. von Martin Teuschel

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Axel 1

Es war nachts, ich erinnere mich nicht mehr genau an den Tag. Vielleicht war es Wochenende. Ja, am nächsten Tag hatte ich frei. So kam es, dass ich mitten in der Nacht auf dem Nachhauseweg war.
Gelegentlich fuhr ein Auto an mir vorbei. Lange bevor es die Kleinstadtstille durchbrach, kündigten hell zerschnittene Schneeböen sein Kommen an. Dann verschwand es wieder: Genauso wie es gekommen war. Ich sah nicht hinterher. Mit großen, noch aus der Großstadt gewohnten Schritten zertrat ich unermüdlich neu fallenden Schnee.

Alexander 1

Heiligabend hatte Sandra mit mir Schluss gemacht, der Arm war gelähmt, die Wohnung hatte ich tobsüchtig kurz und klein getreten. Der Alkohol. Wie immer zuviel. Das war mein Problem. Nicht mehr Sandras. Hatte ich es erwähnt? Sandra hatte Schluss gemacht. Gut, das ich heute in die Kirche gegangen war. Bruder John hat mich aufgebaut. Obwohl ich wieder auf Schore war.

 Der Afrikaner hat es sofort erkannt. Hat aber nicht die Augen verdreht. Er kannte das schon. Er war froh, dass ich da war. Besser als im Knast. Oder in der Gosse. Rudi hatte ich auch mitgenommen. War ein Fehler gewesen, hatte ich später gedacht. Bruder John dachte anders. Trotzdem war es mir peinlich, als Rudi rief, wann es endlich zu essen gäbe. Mitten im Lied, als alle sangen. Die Afrikaner um uns herum schwiegen. Betreten oder beleidigt. Vielleicht auch mitfühlend. Sie sahen uns an. Nein, sie starrten uns an. Erkannten uns Junkies. Ich hielt den Mund. Wurde ganz klein. Rudi nicht. Er krakeelte. Junkies, so sind die halt. Durch und durch unberechenbar. Aber ich bin ja gar keiner mehr. Fix nur manchmal. Alle hörten auf zu singen. Da wurde Rudi leise. Zu spät, hatte ich gedacht. Aber wir waren drauf. Bruder John hatte es gemerkt. Und alle anderen auch. Es gab nichts zu verheimlichen. Bruder John unterbrach die unselige Stille: „Brüder und Schwestern“, rief er, „seht hier: Arme, die der Hunger treibt. Helft ihnen.“ Dann drei Halleluja. Er ging herum und sammelte eine Kollekte. Nur für Rudi und mich. Das war genau das richtige. Rudi griff mit vollen Händen zu. Ich nicht. Das Geld brannte nicht auf meiner Seele. Nein, es war der Schmerz meiner Einsamkeit. Und diese Flammen löschte die Gemeinschaft. Und während ich Rudi beobachtete, wie er das Geld ohne zu zählen in seine Taschen verstaute, überkam mich das wohlige Gefühl mein Leben halbwegs im Griff zu haben. Ich hatte eine Wohnung, regelmäßiges Geld vom Amt und das Heroin unter Kontrolle. Die andere Hälfte: Sandra, Alkohol, Behinderung. Behinderung: Die Straßenbahn schoss vor mein inneres Auge. Der Zusammenstoß, mein Sturz, der Schmerz. Ich hätte Tod sein können. Als ich im Krankenhaus war, entgiftet und halbseitig gelähmt, war ich das erste Mal froh am Leben zu sein. Meine Lebensmüdigkeit war dem Lebensmut gewichen. Da blühte ich auf. Und dann lernte ich Sandra kennen. Sie war Krankenschwester, ich Patient. Der Frühling kam und sie half mir in mein neues Leben. Eine Zeit lang ging es sogar ohne Alkohol. Und ohne Schore. Im Herbst trank ich wieder. Sandra akzeptierte es zuerst widerwillig. Bis ich austickte. Dann der Frust. Dann die Schore. Sandra flippte aus, als sie davon erfahren hatte. „Nie wieder, sonst bin ich weg!“, hatte sie gedroht. Dann geheult. Aber letzte Woche war es dann wieder so weit. Und gestern Schluss.

Andreas 1

Ich hielt seine schlaffe, einst so kräftige Hand. Er war ohnmächtig. Genauer komatös. Geräte piepten. Seine Augen waren blau geschlagen. Ich sah ihn wieder an und heulte weiter. Sie hatten ihn abgestochen. Mit dem Messer in beide Nieren. Ich erinnerte mich daran, wie er es mir gezeigt hatte. Im Schlachthaus. Ich war zehn gewesen und er hatte es mir gezeigt. Knie in die Eier. Beide Hände um den Körper und die Messer schräg nach oben. Wir hatten es geübt, immer und immer wieder. Von klein auf lehrte er mich Sandsäcke auf den Schultern zu tragen. Lehrte mich zu kämpfen. Ich sollte seine Nachfolge antreten. Präsi sollte aus mir werden.

Hart sollte ich sein. Und jetzt heulte ich rum. Er lag wie tot da. Konnte nichts sagen. Hatte einen Schlauch im Mund. Und beide Nieren zerstochen. Ich war vollkommen fertig. War gerade noch im Jugendknast gewesen. Heiligabend im Knast. Die volle Packung. Wir waren alle cool. Aber innen drin, da sah es übel aus. Zuhause hatte Andrea mir alles erzählt. Lukas ist im Krankenhaus. Da habe ich nicht gewartet. Bin sofort aufs Fahrrad und losgefahren. Aus der Stadt, in die nächste Stadt und über die Landstraße. Wut und Trauer trieben mich fünfzig Kilometer durch den Winter. Im Krankenhaus ging ich zu ihm. Konnte nichts machen. Die Krankenschwester versuchte mich zu trösten. Bis sie keine Zeit mehr hatte. Ob er sterben würde? Mit sechzehn konnte ich nicht sein Nachfolger werden. Konnte kein Rind auf den Schultern tragen, konnte keine Kiste Bier trinken, konnte dem fetten Andy keins auf die Glocke geben. Ich war zu jung, zu klein, zu schwach. Und ich heulte, weil ich nicht wusste, ob mein Vater den nächsten Tag erleben würde.

Axel 2

Es war schon lange her, dass Lichtkegel Schneewehen zerschnitten hatten. Mir war kalt. Vielleicht sollte ich ein Taxi nehmen. Aber es kam keins. Stattdessen hörte ich ein seltsames Geräusch. Schwieep-wumm. Es wiederholte sich öfter. Unter einer Lampe sah ich einen Mann, der seltsam gebückt eine große Kiste schob. Unwillkürlich dachte ich an Quasimodo, der Leichen im Schutze der Nacht raubte. Schwieep-wumm. Das Schwieep kam vom Schieben. Der Mann war auf der anderen Straßenseite. Seitlich gebeugt humpelte er. Sein linkes Bein zog er kraftlos nach und sein Arm hing hinunter. Ich wechselte die Seite, um ihn zu helfen. Oder zumindest fragen, was er da seltsames tat.

Alexander 2

Sperrmüll heißt der Segen der Armen. Ich traute meinen Augen nicht. Da stand ein großer Lautsprecher von sehr guter Qualität. Selbst wenn er defekt war, würde ich ihn reparieren. Davon verstand ich mehr als vom Leben. Ich sah mir das gute Stück an und bedankte mich bei Gott für das späte Weihnachtsgeschenk. Ich kippte die Box an. Probierte ihr Gewicht aus. Zu schwer, als das ich sie hätte mit einem Arm tragen können. Also schob ich. Hätte ich mir das Geld mit Rudi geteilt, hätte ich ein Taxi genommen. Aber jetzt. Ich verfluchte mich. Aber was sollte ich tun. Ich hob die Box an meinen Körper heran und als sie schräg stand schob ich sie vor. Und dann: „Wumm“ fiel sie auf den Boden. Immerhin war sie nicht umgekippt. Meine Hand war klamm. Hätte ich wenigstens einen Handschuh. Ich schob weiter. Nur so konnte ich nach Hause kommen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Andreas 2

Die Krankenschwester schickte mich weg. Du musst jetzt gehen, sagte sie. Ich gehorchte ihr. Ging hinaus und setzte mich aufs Fahrrad. Jetzt war es dunkel. Verschwunden die Sonne, die mich mittags gewärmt hatte. Ich war in der kleinen Stadt und musste nach Hause. Keine S-Bahn, kein Bus, kein Geld. Also fuhr ich los. Aus der kleinen Stadt auf die Landstraße. Nicht mal zehn Minuten unterwegs, … und dann fing es an zu schneien. Dichter Schnee peitschte mich an. Ich hatte Glück, weil er von hinten kam und ich hatte Pech, weil ich noch immer die Klamotten trug, mit denen ich im Jugendknast herumgehangen hatte. Herbstkleidung. Ich fror. Also fuhr ich schneller. Die Hände steckte ich in die Taschen. Immerhin ging das Vorderlicht. Sonst hätte ich nichts mehr gesehen. Zwei Stunden. Mindestens zwei Stunden noch. Dann wäre ich zu Hause. Wie sehr hasste ich den Mann, der meinen Vater so zugerichtet hatte. Ich dachte darüber nach, wer das getan haben könnte. Wegen ihm ging es Lukas so schlecht. Wegen ihm fuhr ich durch den Schnee und fror. Wut und Rache erhitzten mich. Sie trieben mich an. Ich fuhr schneller, so schnell, wie es freihändig eben ging. Immerhin hatte ich Rückenwind.

Axel und Alexander

„Kann ich Dir helfen?“, sprach der Großstädter den Junkie an. Der Junkie drehte sich um und nahm dankend an. So standen sie voreinander. Und in ihren Augen funkelte Sympathie. Ungeachtet unterschiedlicher Pupillengrößen. Der Großstädter ging hinten, der Junkie vorne und nach fünf Minuten war es geschafft. Der Junkie bedankte sich, doch der andere sah, dass der Junkie noch ein paar Stufen zu gehen hatten. „Trägst Du die Box auf dem kleinen Finger in den Keller?“, fragte er und grinste. Der Junkie guckte blöd und der andere bot erneut Hilfe an, die wiederum bereitwillig angenommen wurde. Im Keller lagen zehn Euro, ein Computermonitor, eine Schatzkiste, tausende Zeitungen, ein Keyboard, leere und volle Bierflaschen. Der Einarmige bot seinem Helfer ein Bier an. Der bedankte sich, doch er lehnte ab, denn er machte sich nichts aus Alkohol. Dafür aber umso mehr aus einem netten Plausch. Das war auch angenehm und so gingen die beiden wieder hinaus in den Schnee und setzten sich in den Schutz einer Bushaltestelle, um den Schneesturm zu betrachten. Dabei unterhielten sie sich prächtig über Gott, die Welt, schöne Frauen, schnelle Autos, Straßenleben, Drogen, Ungerechtigkeit, Luden und Politik. Der Junkie klagte zwischen den Sprüngen, die das Gespräch belebten, über seine tragischen Erlebnisse der letzten Zeit, die ihnen als aufmerksamer Leser bekannt sind und der andere munterte ihn mit netten unbeschwerten Episoden auf oder verwies auf schlimmeres Unglück. Dabei wurde Bier getrunken, die eine oder andere Zigarette geraucht und Kaugummi gekaut.

Andreas 3

Endlich Stadt. Oder zumindest das Schild, das die Stadt anzeigte. Ich kannte die Stadt aus meiner Kindheit. Mit Lukas hatte ich hier viel Zeit verbracht. Mir war kalt. Der ganze Hass und die Tränen hatten meinen Hals klobig gemacht. Die Nase war längst vereist. Die Stadt war leer, es war nachts, niemand war zu sehen. Nicht einmal Autos fuhren noch. Ein Lied ging mir durch den Kopf. Darin ging es um Leere und Trostlosigkeit einer Kleinstadt. Doch anders als der Sänger saß ich nicht im warmen Auto. Ich saß noch immer auf dem Fahrrad und der Wind hatte sich gedreht. Meine Hände konnten nicht mehr in den Taschen bleiben und meine Augen waren zu engen Schlitzen gekniffen. Die Häuser mehrten sich und ich sah eine Bushaltestelle. Da wollte ich mich kurz ausruhen. Ich fuhr direkt darauf zu. Und hielt an. Da saßen zwei Penner und tranken Bier. „Scheiße“, dachte ich und hatte das Gefühl vom Regen in die Traufe zu kommen. „Wenn die mich anmachen, mach ich die fertig.“, dachte ich. Doch ich stand vor ihnen und fragte, obwohl ich mich auskannte, nach dem Weg. Irgendwas musste ich ja sagen.

Axel, Alexander und Andreas

„Das ist noch weit, weit weg.“, antworteten die beiden erstaunt aus ihrer Unterhaltung gerissen. Sie betrachteten den jungen Radfahrer. Ein Kind im Schneesturm. Dünn gekleidet und durchgefroren sah der Kleine aus. Er wirkte, als sei er am Ende. Auf dem Stadtplan erklärten sie ihm den Weg, doch sie wollten ihn nicht sofort weglassen. Sie spürten die Verzweiflung des Kleinen und zeigten Feingefühl, da sie sehr wohl wussten, dass der Kleine Angst vor ihnen haben musste. Nachts zwei zu treffen die mindestens doppelt so alt waren wie er, erweckte sein Misstrauen. Perverse gab es überall. So lehnte er auch das Angebot des einseitig Gelähmten ab sich bei einem Tee in dessen Wohnung aufzuwärmen. Verständlich in Zeiten wie diesen. Bier und Zigarette hingegen nahm er an und erzählte unfreiwillig, es wurde ihm aus der Nase gezogen, von seinem schwer verletzten Vater. Als der Schneesturm sich gelegt hatte und der Jugendliche seine Geschichte erzählt hatte, ging es ihm sichtlich besser. Der Junkie schenkte ihm seine Jacke und ein Bier, Zigaretten waren schon alle, der andere Handschuhe und Kaugummi. Dann fuhr der Junge nach Hause und auch die beiden anderen verabschiedeten sich, mit der Gewissheit einander nie wieder zu sehen.

von Martin Teuschel

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Deine kleine Schnuppertour
  • Im Projekt Freiraum kann geduscht werden. Eine Dusche ist abgebildet.
  • Abbildung: Sauberkeit in Bad und WC. Ein Desinfektionsspender für die Toilette zum einfachen Gebrauch.
  • Böse Blumen: Ein Geschichtensammlung im PDF - Format
  • Glaube, Liebe, Hoffnung: Christliche Werte mit Tusche gezeichnet.
  • Sandra meint: "Was du hier schreibst ist Kitsch. Manchmal wünschte ich[..] eine Internetprüfung!" Was meinen andere?
  • Streetart zum Berliner Straßenkunstfestival Berlin-Lacht 2007 mit der Kurzgeschichte Straßenkunst
  • Berlin: Superstar Boxi spielt mit Styropor Stadtbau. Und baut dabei reichlich Tower 
  • Comic :Umzug in Berlin. Freunde helfen. Professionell ist das selten. Dafür gibts Renovierungstipps.
  • Ein Projekt das Gesundheit, soziale und informelle Gerechtigkeit, religiöse Toleranz und Integration fördern und fordern will, kann zur Verwirklichung seiner Ziele Grundregeln definieren.
  • Kurzgeschichte: An der orientalischen Bühne beim Karneval der Kulturen gab es wieder ein tolle Show.