Unkommerzielle Arbeiten von John-Martin Teuschel (JOMT) bis 2010Neue Inhalte folgen auf jomt.de |
Geschichten: Radio TAT: Serie : (kannst Du auch einzelnd lesen!)
und dazu gibt es viele Bilder
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Die Geografie verlangte von Berlins Sonnenaufgang in Paris die Nacht. Dort lag Celine im Bett.
Sie weinte schlaflos. Ihr Vater war gestorben. Jaques. Ihr geliebter Vater.
Tot. Weg. Er hatte sie allein gelassen. Kein Abschied. Keine Worte. Kein
letzter Kuss. Einfach so. Plötzlich. Celine wälzte sich im Bett. Ihr Schluchzen
drang durch die Tür und durch die Mauern. Vergeblich: Sie blieb ungehört. Auch
im Nachbarzimmer weinten Frauen laut. Ihre Mutter, die Witwe Anna, lag in den
Armen ihrer besten Freundin. Sybille streichelte Anna. Sybille fühlte mit und
litt selbst. Auch sie hatte einen guten Freund verloren. Sybille mühte sich
Anna zu trösten. Die Frauen beklagten den Verlust des Mannes und Freundes.
Laute Tränen übertönten Celines Trauerklage. Celine öffnete sich. Jeder
Widerstand war gebrochen. Ihr Dasein löste sich ins Meer ihrer Tränen. Ihre
Gefühle trieben wie Wellen. Unkontrolliert tobten Winde und Orkane darüber,
rissen Wassermassen in die Höhe und ließen sie laut krachend in die Tiefe
fallen. Wasserwände versperrten den Horizont, immer wieder raubten salzige
Gischten Celines Atem. Laut schluckte sie ihren Speichel. Sie rang nach Luft
bis eine neue Böe ihres ungerichteten Schmerzes sie erfasste. Ein starker Sog
riß sie in die Tiefe. Celine bebte unter den Tränen. Speichel lief auf ihr
Kopfkissen. Fest umklammerte sie es mit ihren Armen. Wehrlos rollte sie ihren
Körper zusammen. Das Leid hatte ihre verschlossenen Augen mit Salz stark
gerötet. Ihr Geist und ihr Körper schwächelten gegenüber ihren kräftigen
Gefühle. Diese feinfühlige Situation erlaubte der Heranwachsenden vielen
Erwachsenen Verborgenes zu spüren. Unmerklich berührte es sie. Zuerst zitterte
sie. Es war fremdartig. Obwohl sich ihre Härchen schaudernd aufstellten und
Kälte sie behutsam eroberte, hatte sie keine Angst, als sie die Veränderung
bemerkte. Im Gegenteil: Sie empfand eine wohlige Übernahme. Celine glitt sanft
und tief ergriffen in eine Leichtigkeit. Diese ließ die schwere Trauer kurz
vergessen. Es war kein Zerren. Vielmehr wurde sie an den Haarwurzeln gehoben.
Kräftige Nackenschauer lähmten das Mädchen. Elektrisch floss Strom durch ihre
Wirbelsäule. Schweiß bildete Tropfen auf der Stirn. Dann kribbelte es
fürchterlich in den Ohren und dieses Kribbeln formte Druckgefühl zu Taubheit.
Celine wurde in die Stille geführt. Das Schaudern breitete sich vom Rücken über
den ganzen Körper aus. Es drang von innen durch den Kopf und stellte ihr
Haupthaar auf. Die Stirn erwachte und die Lippen spannten sich. Luftzüge
kühlten Celines Gesicht, ihre Wangen erbleichten und tausend zarte Federn
streichelten sie am Kinn und Hals. Bewegungsunfähig durchlebte Celine heftige
Erregung. Es ging weiter. Auf ihren Schultern zog sich die Haut zusammen. Ihr
Busen und Bauch wurden völlig neu belebt. Ihr Körper erwachte in strahlender
Fülle. Ihr Geist ergab sich dem grellen Licht, das Celine lieblich blendete.
Blitze durchfuhren sie und ihr Becken erhob sich unter Donnerschlägen. Ihre
Wirbelsäule entspannte sich, als ihre Beine sich versteiften und angespannt
aufstellten, um die Elektrizität zurück in das Rückenmark zu führen, damit ihr
Rücken sich erneut spannte und in sich die Höhe bog. Es ging weiter: Bis ins
letzte zarte Härchen ihres Fussrückens. Celines Bewußtsein hatte sich ihrer
ursprünglichen Traurigkeit weit entfernt, als sie die Umarmung spürte. Ihr
Körper bog sich epileptisch zitternd unter den Kräften, die auf sie einwirkten.
Jeder Muskel schien der Explosion zu nahen. Doch sie fühlte keinen Schmerz. Im
Gegenteil: Die Fremdheit der unaussprechbaren Leichtigkeit, die ihrer Lähmung
zu widersprechen schien, wuchs ekstatisch zur liebsten Vertrautheit. Mehr
konnte Celine sich nicht wünschen. Jaques war da. Ihr Vater war da. Niemand
konnte wissen, ob er zu ihr wollte, oder sie ihn gerufen hatte. Und es gab
niemanden, der darüber hätte nachdenken können. Seine Seele war bei Celine.
Dicht an dicht spürten die Seelen einander. Jaques brachte Trost. Celine spürte
ihren Jaques ganz deutlich. Er wischte ihre Tränen weg. Wie er es immer getan
hatte. Seine Hand roch wie Celine es gewohnt war. Das gleiche galt seiner
Stimme. Jaques war da. Ganz präsent. Sie sah ihn nicht, aber sie spürte ihn
ganz deutlich. Es gab keine Zweifel. Mit seiner Liebe und Wärme strich er über
ihren Arm. So wie sie es kannte. Als er sagte: „Du bist nicht allein. Ich bin
bei Dir. Ich bleibe bei dir. Immer.“, brachen Celines Wasserfälle in ihr
Seelenmeer und gaben ihrem Leben den Duft natürlicher Ewigkeit. Celine sehnte
sich danach ihren Vater zu sehen. Sie öffnete ihre Augen. Suchte ihn. Sie
erblickte das Tapetenmuster, die Vorhänge, die Lampe, die Fenster mit dem
dahinter liegenden Paris. Da war er nicht. Sie schloss wieder ihre Augen und
fand ihn außerhalb der Wirklichkeit ihres Zimmers. Jaques war in ihr. In ihrem
Herzen. In ihrem Kopf. Da war er. Wie immer. Doch anders als früher, war er
tot. Aber er wirkte glücklich. Entspannt. Völlig gelöst. So kannte sie ihn noch
nicht. Ein ganz neuer Vater. Er war frei. Ihn drängte kein Termin, keine neue
Aufgabe und keine fremde Vorgabe. Celine wurde sehr glücklich. Sie konnte
seinen Geist sehen. Er wurde präsent. Und er sprach mit ihr. Es waren keine
Worte mehr. Jaques sprach eine Musik, ja eine Melodie und Celine summte die
Melodie mit. Ihr war danach mit ihm zu singen. Es machte sie glücklich. Alle
beide. An die Melodie würde Celine sich immer erinnern. Die Melodie war leicht
und fremd. Celine war tief gerührt, denn in der Melodie spürte sie die Liebe,
die ihr Vater ihr entgegenbrachte. Und sie fand noch etwas anderes. Mehr eine
Posaune, ein Paukenschlag: Das Gefühl, das sie gestern bei Sandros gehabt
hatte. „Sandros“, erinnerte sie sich: „Warum Sandros?“ Und während sie das
dachte und ihre Seele, der väterlichen so nahe war, fühlte sie sich unglaublich
gut. Und sie begriff, das Sandros Zukunft war. Befreit löste sie sich von ihrem
Vater. Die Starre wurde weich. Ihr Geist wurde klar und verstand ermüdet:
Jaques war weg. Sandros, den musste sie finden. Celine weinte nicht mehr.
Anders als Sandros. Celines versiegte Tränen hatten ihren Weg durch seine Augen
gefunden. Der Volltrunkene brach vor dem Tor zum Herzen in Tränen aus. von Martin Teuschel |
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