Unkommerzielle Arbeiten von John-Martin Teuschel (JOMT) bis 2010

Neue Inhalte folgen auf jomt.de

www.berlinerplakate.de: Lexin von Martin Teuschel

Texte:    Tor zum Herzen    Gedichte 1  2  3      Geschichten    Sachtexte   Start & Mehr    Bilder    Impressum    Copyright

Casablancas Abspann bewegte Sandros. Beeindruckt stand er auf. Casablanca würde Spuren hinterlassen. Wie Celine. Sie war weg. Fort. Verschwunden. Sandros ging hinaus. An die frische Luft. Eine Zigarrette rauchen. Er ging zum Fahrstuhl. Er hielt den Barcode seiner Karte auf die Lesefläche. Doch die Tür blieb verschlossen. Stattdessen grüßte ihn die Stimme des Tors zum Herzen: Freundlich. Auf spanisch. Sandros bemerkte die katalane Herkunft der Sprecherin sofort:


„Guten Abend Sandros! Du bist glücklicherweise körperlich, geistig und seelisch unversehrt. Deshalb bitte ich Dich das Treppenhaus zu nutzen. Es ist zu Deiner Rechten. Für den Transport schwerer Gegenstände kontaktiere bitte Dimitri über das Telefonsymbol. Ich wünsche Dir einen schönen Abend und fantastische Träume. Weißt Du, Deutsche sagen, die Träume der ersten Nacht im neuen Bett werden Dir erfüllt.“ „Nein, das macht es aber auch nicht besser“, antwortete Sandros. Ihn ärgerte die Erinnerung an seinen Traum vom Nachmittag. Dessen Erfüllung fürchtete Sandros ohnehin. Er wandte sich ab und ging ins Treppenhaus. Nach oben. Die körperliche Betätigung, das Treppensteigen, ließ den Ärger verfliegen. Er lächelte über die Software des Tors zum Herzen. Sie kannte ihn und gab sich Mühe persönlich zu scheinen. Es gefiel ihm, daß sie nicht gewusst hatte, dass er bereits geträumt hatte. Sie war nicht allwissend. Diese Fehler gaben künstlicher Intelligenz Sympathie. Anders als die Systeme in Banken und Kaufhäusern, die Puls und Testosteronspiegel kannten. Sandros trat durch die Tür auf das Dach in die Dunkelheit. Er stand auf einer Insel im Lichtermeer. Laserfluter malten Figuren auf den Himmel und warben im Stadtdunst für Waschmittel und Damenbinden. Sandros entzündete seine Zigarette. Die Glut tauchte sein Gesicht in roten Schimmer.
Er balancierte auf der dünnen Bodenbeleuchtung und näherte sich dem Dachrand.

Da saßen Jiang, Harald und Sieglinde. Ihre Beine baumelten durch die Gitter, die die Gemeinschaft vor Stürzen bewahren sollten und ihre Hände hielten sich am Metall fest. Sandros ging zu ihnen. „Du stinkst“, sagte Sieglinde und meinte seine Zigarette. Sandros verstand nicht. Erst als sie wild gestikulierte, und auf ihre Hand zeigte , in der sie eine unsichtbare Zigarette hielt, sich dann ihre Nase verschloss und mit geblähten Wangen aufgeregt durch die Luft wedelte, verstand er. „Wir sind doch draussen...“, dachte er und „Naja, was solls.“ Er warf seine Zigarette zu Boden und hob gewohnt den Fuss. „Nein!“, rief Harald. Sandros verstand nicht und drehte seinen Fuß routiniert auf die Zigarette. Tabak, Krümel, Rauchkondensator und Glut knirschten und hinterließen einen schmutzigen Fleck. Harald hielt jetzt, einen Moment zu spät, seinen kleinen Aschenbecher hin. Von Sieglinde hörte Sandros zischelnd: „Idiot“. Er blieb unsicher, wer der Idiot war. Harald war keiner. Und Jiang interessierte die Geschichte nicht. Unfreundlich sah er Sieglinde an, doch die schien durch ihn durchzusehen. Und lächelte.

Die Etage unter ihnen, die Vierte, gehörte zum Privatbereich des Tor zum Herzen. Hier gab es Personalwohnungen, jede fast zehn Quadratmeter, mit Toilette und Fenster ausgestattet. Außerdem gab es in der vierten Etage noch die Personalküche und zahlreiche Sitzgelegenheiten. Außerdem gab es Joplin: Der japanische Student und Mitarbeiter im Tor zum Herzen war in seinem Zimmer. Er gab viel Gel in seine schwarzen, linksseitig feuerrot gesträhnten Haare. Langsam zog der breit gezahnte Kamm dicke, glänzende Strähnen zu Joplins schmalen gezupften Augenbrauen. Joplin verschönerte sich gerne. Cayal für vertiefte Augenblicke. Parfüm und Rasierwasser für nasales Ambiente. Sorgfältig fixierte er Strähnen auf die Haut. Wie Franckson. Franckson war der Sänger von Ügaya, der bekannten Afrikanischen Band. Ihre Songs waren international erfolgreich. Jeder Hit bezeugte Weltkultur. Joplin wackelte mit dem Kopf zur Musik. Perfekt. Die Frisur saß und hielt. Er drehte sich herum und spielte mit Ügayas Gitarristen Luftgitarre. So fühlte Joplin. Vor hundert Jahren war das Rock'n Roll. „Tschak- Tschak“, schlug traditioneller Nomadenstock hinterher. „Tschak-Tschak“, wiederholte Joplin mit Armen, Mund und einer Drehung, die bei Alten die Hexe um einen Schuss bemüht hätte. Für Joplin zauberte die Hexe ein Stimmungshoch. Joplin sah aus dem Fenster seines kleinen Appartements. Es war Nacht. Die Nachbarn sahen fern oder waren schon weg. Er blickte nach oben. Befreundete Füße baumelten vom Dach. Auch Sieglindes. Er erinnerte sich an den Tag, als er Sieglinde kennen gelernt hatte. Vor drei Jahren. Er war schon ein paar Monate durch Berlin geirrt, hatte einen Sprachkurs besucht und viele Menschen kennen gelernt. Und wieder aus den Augen verloren. Sieglinde traf er. Und sie blieb ihm mit ihren Berliner Klischee: Schnauze mit Herz. Natürlich erstmal Schnauze. Das Herz kam später. Nicht viel später. Berlinisch halt. Direkt und als Geschenk. Sieglinde... Was für eine Frau... Umwerfend. Und sie war ihm treu geblieben. Sie hatte ihm Berlin noch einmal gezeigt: Die Universität, die Ämter, die Clubs, die Bars, die Shops, die Parks mit der Kenntnis einer Einheimischen... Und natürlich: Das Tor zum Herzen. Hier fand er Arbeit, die ihm Zeit für sein Studium gab. Teure Berliner Mieten erschwerten das konzentrierte Studium. Die Wohnkosten zwangen Studenten zu hohen Arbeitszeiten. Im Tor zum Herzen arbeitete er nur zehn Stunden in der Woche für freie Logis. Für sein Zimmer. Seine zehn Quadratmeter musste er nicht mit Kommilitonen oder Reisenden teilen. Anfangs lebte er in einem Hostel. Joplin kehrte der Nacht seinen Rücken und betrachtete seine Habe: Ein Bett, ungezählte, gestapelte, zur Decke ragende Schuhkartons und der überladene Kleiderständer. Hier bezeugten Jacken, Hosen, T-Shirts die Vielfalt der Welt. Einige hatte er selbst gekauft, den größten Teil hatte er mit Touristen getauscht, oder sich aus deren Heimat schicken lassen. Joplin schlug keiner einen Gefallen aus. Seine Garderobe wuchs beständig: Kariert, liniert, argentinische Blumenmuster und kanadische Elche. Und alles aus Lexin. Lexin war seit den zwanziger Jahren das Textil. Wiederverwertbar, leicht aufzubereiten, hautfreundlich, kostengünstig und schmutzabweisend ersetzte Lexin alle anderen Stoffe. Baumwolle, Leder, Latex, Seide: Alles war kopierbar geworden. Und das galt nicht nur dem Aussehen, sondern auch dem Tragegefühl, der Atmungsaktivität, dem Gewicht und den natürlichen Verunreinigungen, wie zum Beispiel Unregelmäßigkeiten im Schlangenleder. Alles war möglich mit Lexin. Die robuste Lackhose für den Bauarbeiter? Kein Problem: Kratz-,reiß-, wasser-, feuerfest, thermodynamisch, schweißabsondernd und atmungsaktiv. Selbst Bücher und Toilettenpapier erlangten neue Reißfestigkeit und unterschiedliche Saugfähigkeit. Des einen Verlust wurde des anderen Gewinn. Joplins Toilettenwand trug ein Regal, das seinerseits für Pflegeutensilien und Lieblingsbücher die Schwerkraft blockierte. Das war alles. Mehr besaß er nicht. Aber auch nicht weniger. Joplin war stolz. Seine Blicke berührten die Gegenstände, tasteten sie ab, so lange bis es ihn langweilte. Dann machte er sich an die Schuhkartons. Er wusste bereits welche Schuhe er wollte. Schwarz-weiß kariert. Mit Plateausohlen. Und er hatte keine Ahnung in welchem Karton sie waren. Immer das gleiche. Die Türme seiner Kartonstadt verkleinerten sich. Er öffnete Karton für Karton, sah hinein, freute sich über die Schuhe, die er erblickte, schloss den Karton wieder und stellte ihn auf den Boden, oder auf einen anderen erforschten Karton. Kartonhausen wanderte solange er nicht das gewünschte Paar fand. Die Ordnung wuchs ins Chaos. An dessen unvorhersehbaren Ende zog Joplin glücklich seine Schuhe an. Ungerührt hinterließ er Kartonien, öffnete die Toilettentür, prüfte seine Frisur, zog mit der Rechten die Tür auf, nahm gleichzeitig mit der Linken den Kamm in die Tasche seiner Baseballjacke. Die Tür fiel ins Schloss. Ein kurzer Knall und erschrockene Blicke derer, die in der Gemeinschaftsküche waren. „Guten Appetit, Freunde!“, rief Joplin ihnen zu. Sie verziehen dem sympathischen Japaner den Schreck und seine leichtherzige Entschuldigung. An der Tür zum Treppenhaus, das zum Mitgliederbereich gehörte, warf Joplin sich ein Cape über. Das genügte der Kleiderregel. Es verdeckte private Kleidung. Schnell polterte er die Treppe hinunter ins Erdgeschoss zum Raum der Stille. Vor der Tür stoppte er. Selbst sein Atem stand still. Er zog seine Schuhe aus und stellte sie ins Regal. Behutsam öffnete er die Tür und betrat den weichen Teppich. Geräuschlos. Der Raum schluckte Schall. Das Mauerwerk war rundherum mit dichtem, langen Flor bedeckt. Zusätzlich überdachte moltonähnliches, weißes Lexin das Zimmer. Das schwebende Zelt hing zehn Zentimeter von Decke und Wänden entfernt im Raum. Seile spannten es an die oberen Zimmerecken. Die Schalldämmung war hervorragend gestaltet. Selbst lautes „Hatschie!!!“ blieb mangels Tonreflexion ungehört. Anders als Geräusche flutete am zehn Zentimeter breiten Abstand vom Boden zum Tuch Licht indirekt und gedämpft ein. Joplin setzte sich und meditierte. Er ging immer ins Nichts, bevor er das Haus verließ. Eine Familientradition.

Dreißig Minuten später lief er hinter dem Fremden und winkte Sieglinde entgegen. Sie stand auf, rannte auf den verdutzten, immer noch mit der Zigarette beschäftigten Sandros zu, übersah dessen erschrockenes Gesicht, passierte ihn und fiel Joplin in die Arme. Ohne dessen Frisur zu zerstören. Sandros sah sich um, sah die beiden, sah seine Zigarette und dachte auf spanisch: „Oh nein, Personal.“ Harald kam ihm mit seinem Miniaschenbecher zur Hilfe. Und dann zeigte er auf eine Tür und erklärte Sandros, das er dort einen Besen finden würde. Sandros ging dort hin. Nicht ohne von Joplin angesprochen zu werden. „Oh, hast Du geraucht? Das ist hier verboten...“. Er grinste breit und schlug in Harald und Jiangs Hände ein. Sandros hatte Joplins Worte nicht verstanden, wohl aber das er nicht mehr für Spott sorgen brauchte. Er nahm an, dass es bestens sei, wenn er wie Harald ihm gedeutet hatte einen Besen holen würde. „Wer ist das?“, fragte Joplin und zeigte mit den Daumen rückwärts auf den abziehenden Sandros. „Keine Ahnung. Ist hier gerade aufgetaucht. Bestimmt neu.“, antwortete Jiang. Harald wusste mehr. „Sandros“, heißt er. „Du kannst lesen?“, gab sich Jiang erstaunt. Sieglinde schüttelte den Kopf: „Kommt Leute, keine Dyslexie-Witze jetzt...“ „Jawoll, Genossin Stasilinde“, feixte Joplin. Sofort schmerzte sein Oberarm von Sieglindes kräftigem Faustschlag. Ihre Augen waren sehr dicht beieinander. „Ein Duell!“, rief Harald. „Auja.“, stimmte Jiang ein. Joplin gab ihm wieder einen Handschlag. Diesmal allerdings auf die Stirn. Jiang taumelte davon, schlug seine Beine comicartig gerade in die Luft und zog kreiselnd mit vorgestreckten Armen untot von dannen. Sandros ersetzte seinen Part und fegte die Zigarettenreste weg. „Der Mülleimer ist da, wo der Besen steht.“, sagte Harald. Sandros sah ihn fragend an. Schnell einigten sich alle auf Englisch und beschlossen ein paar derbe Späße später ins Lampa zu gehen: „Da legen Fizros auf. Aus Malaysia­. Sandros war zufrieden. Jetzt kannte er welche, die sich auskannten. Und er würde mit ihnen tanzen gehen. Das klang gut. Nach Urlaub.
Joplin lud Harald, Sandros, Jiang, und Sieglinde auf eine Personalfahrt mit dem Fahrstuhl ein. Im Keller zogen sie sich um. Sandros behielt seine Kleidung für den nächsten Morgen, die anderen warfen die Kleidung in die Wäschekörbe der Wäscherei. Sieglinde rief ein Taxi und fünf Metropolite fuhren ins Lampa, wo sie eine vergnügte Ewigkeit auf Einlass warteten.

von Martin Teuschel

Weiter zum zwölften Teil der Serie. 

Zum Seitenanfang

Zum Seitenanfang

breiten_mass_inhalt_spalte

 





Deine kleine Schnuppertour
  • Im Projekt Freiraum kann geduscht werden. Eine Dusche ist abgebildet.
  • Abbildung: Sauberkeit in Bad und WC. Ein Desinfektionsspender für die Toilette zum einfachen Gebrauch.
  • Böse Blumen: Ein Geschichtensammlung im PDF - Format
  • Glaube, Liebe, Hoffnung: Christliche Werte mit Tusche gezeichnet.
  • Sandra meint: "Was du hier schreibst ist Kitsch. Manchmal wünschte ich[..] eine Internetprüfung!" Was meinen andere?
  • Streetart zum Berliner Straßenkunstfestival Berlin-Lacht 2007 mit der Kurzgeschichte Straßenkunst
  • Berlin: Superstar Boxi spielt mit Styropor Stadtbau. Und baut dabei reichlich Tower 
  • Comic :Umzug in Berlin. Freunde helfen. Professionell ist das selten. Dafür gibts Renovierungstipps.
  • Ein Projekt das Gesundheit, soziale und informelle Gerechtigkeit, religiöse Toleranz und Integration fördern und fordern will, kann zur Verwirklichung seiner Ziele Grundregeln definieren.
  • Kurzgeschichte: An der orientalischen Bühne beim Karneval der Kulturen gab es wieder ein tolle Show.