Unkommerzielle Arbeiten von John-Martin Teuschel (JOMT) bis 2010

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www.berlinerplakate.de: Das Hochzeitskleid von Martin Teuschel

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Das Hochzeitskleid

Vom Landesinneren stieß der warme Wind auf das offene Meer. Unter hohen Klippen bewegte er Wellen, deren Gischt der Mond und seine funkelnde Sternenwelt weiß benetzten. Licht schuf Sicht auf Felsen, die das Meer bemalten.
Vor einem dieser Felsen ankerte das Boot zweier Liebender, die auf glattem Stein ihr Lager gefunden hatten. Verliebt, verlobt und fast verheiratet. Sie liebkosten einander, lebten jugendliche Gefühle und bestaunten sich im Mondschein. Licht und Schatten verliehen ihren Gesichtern eine weiche, geheimnisvolle Schönheit. Die Gewissheit um die baldige Vermählung wuchs mit jedem Blick auf das Gegenüber. Neckisch waren ihre Küsse im verliebten Spiel. Und doch schenkte ihnen diese Leichtigkeit die Tiefe des Geliebtseins. Himmlisch ertönten Violinen. Als fremde Klänge verlauteten, erkannte die junge Frau: Die Musik war real. In leidenschaftlicher Umarmung horchte sie auf. Unbeirrt naschten seine Lippen weiter von ihrem Hals. Die Töne überragten das Wellenschlagen und wandelten sich in quietschende Dissonanzen.
Verzerrte Laute stellten weibliche Haare auf. Das Mädchen versteinerte. „Hörst Du das?“, fragte sie leise. Der angehende Bräutigam, von seiner Natur geleitet, widerstrebte der Unterbrechung: „Was?“, fragte er zurück. „Die Musik…“ Jetzt hörte auch er hin. „Ja, da ist etwas. Keine Musik. Eher Geräusche…“, dachte er wortlos. „Was ist das?“, fragte sie unsicher und erwartete seine Antwort. Sie blieb aus. Die Vertrautheit wich. Angst ersetzte sie. Die Geliebte sah sich um. Vergeblich. Keine Strandparty. Kein Lagerfeuer. Der Mann sah das Licht. Das weiße Glimmen. Den Schimmer über den Felsen. „Da oben.“, sagte er und zeigte mit dem Finger: „Da oben ist Licht. Da ist bestimmt eine Party.“ „Mit der Musik? Die klingt so… unheimlich…“ Er hatte eine Antwort: „… Freaks …“ - „Hexen! Das sind bestimmt Hexen.“ Ihr Schluss verwirrte ihn: „Hexen? So was gibt es doch gar nicht.“ - „Doch die gibt es.“, beharrte sie, „und die feiern … grausame Feste.“ Sie hatte davon gelesen. Geopferte Kinder und brutale Strafen für Verräter. Das war kein Aberglaube. Das war Wirklichkeit. „Ich glaube, das ist nur eine Party.“, beschwichtigte er. Doch sie hatte sich in Furcht verfangen. Ihre Augen starrten zum Klippenrand, der in den Himmel ragte. Und dann passierte es. Sie sahen es beide. Licht strahlte auf. Ein Geist erschien. Weiß mit großem Schleier. Deutlich erkennbar. Die Geisterbraut. Der jungen Frau schnürte das Herz. „Siehst Du sie? Sie sieht uns an.“ „Ja, ich sehe sie.“, sprach er mit vereistem Blut. „Ein Geist“, flüsterte sie ungehört in die Brandung. Eine schreckliche Ahnung keimte in ihr auf.

Wochen zuvor erwachte Nora glücklich. Spike hatte ihr sein Versprechen gegeben. Endlich. Sie hatte schon lange darauf gewartet. Nora streckte sich. Sie drehte sie sich nicht zum weiterschlafen um. Nein. Mit Schwung stand sie auf und duschte.
Später stand sie gewaschen, frisiert, gekleidet und gesättigt mit Handtasche und Knauf in den Händen im Treppenhaus. Ein lustvoller Knall schloss die Tür. Nora floss in die Menschenmenge. Sie wollte ihr Hochzeitskleid finden. Wo wusste sie. Oft hatte sie vor Brautmodengeschäften Träumen nachgehangen. Müller, Meier, Janssen und einige andere ließ sie hinter sich bis sie ihres Vorhabens Haken erkannte. Die Auswahl war groß: Brautkleider waren kurz, lang, berüscht, glatt, weiß, violett, weit oder eng. Nicht ihr Geschmack hinderte sie, sondern das, was die Kleider einte. Das Preisschild verursachte das Problem, das Brauteltern geduldig trugen. Von ihren Eltern erwartete Nora Nichts. Auch nicht in dieser Angelegenheit. Sie musste es selbst schaffen. Sie probierte alle Modelle, die ihr gefielen. Dem Geldmangel trotzend lebte sie luxuriös im Zeitwohlstand.
Ihre Hand öffnete und schloss ungezählte Geschäftstüren. Sie trug Seide, genoss weiches Streicheln auf ihrer Haut und staunte vor Spiegeln über ihre unterschiedlichen Busengrößen. Schnitte entschieden über Größe oder Unsichtbarkeit. Die Taille formte sich schlank oder durch gerefften Stoff weit. Geschlossener Kragen, weites Dekollete, freier Rücken, kurze Ärmel, lange Schleppe. Sie probierte alle. Sie steckte ihr blondes Haar hoch, öffnete es und versteckte ihre runden Augen hinter weißem Tüll und kokettierte mit ihrem Spiegelbild. Unschuldig, schüchtern, verführerisch, mit traurigem Gesicht oder strahlendem Lachen zog sie die Ärmel hinunter oder lange Handschuhe hoch. Nach zwei Wochen unermüdlicher Anproben verflog die anfängliche Begeisterung und wandelte sich in ein festes Bild. Die Idee war geboren, ihre Vorstellung hatte Kontur und Nora begann das Kleid zu zeichnen, das sie selbst fertigen wollte. Den Entwurf brachte sie ins „Tor zum Herzen“. Dort waren ihre Pläne bekannt und die <Ü>Nähgruppe war bereit zu helfen: Bisher konnte Nora nicht einmal nähen. Jetzt wollte sie es lernen. Die Anwesenden beurteilten den Entwurf und Noras Können und kamen zu dem Schluss, dass die wöchentlichen Treffen nicht reichten. Betty betrieb eine Boutique mit Schneiderei. Sie bot Nora ihre Werkstatt und Hilfe an. Willy, Alex und Gertrud beschlossen Nora zu unterrichten und beim Nähen zu helfen. Die Geburt des Projekts „Hochzeitskleid“ endete mit der Abstimmung eines Zeitplans und Noras dankbaren Abschied. Erleichtert verließ sie das „Tor zum Herzen“.

Am nächsten Tag nahm Betty Noras Maße und erklärte ihr, wie ein Schnitt gezeichnet wird. Auf der riesigen Arbeitsplatte zeichneten sie gemeinsam das Kleid und nähten es stückweise zusammen. Die Zeit verflog und Nora verstand immer besser mit Textilien umzugehen. Ununterbrochen ratterte die Nähmaschine. Nähte wurden verschlossen und wieder getrennt. Knöpfe angenäht und gelöst. Fachbegriffe des Handwerks dehnten ihr Wissen. Nora lernte schnell, besessen und gönnte sich selten Pausen.
Mit dem Verrinnen der Tage erwachten in Nora im Verborgenen schlummernde Ungeduld und Zweifel. Zeitweise vergaß sie ihr Glück im Stress. Manchmal neigte sie zu wütenden Attacken. Gegen sich Selbst und schlimmer: Gegen ihre Helfer. Die <Ü>Freunde verstanden sie, doch Noras zunehmende Aggressivität belastete alle. Es ging nicht nur um das Kleid. Nein, die Veranstaltung, die ihr Leben ändern sollte, bedrückte sie zunehmend.

An einem verregneten Mittwoch fielen Regentropfen vom Baum, der im Hinterhof bei Sonne Schatten spendete. Das Telefon klingelte. Betty nahm ab und brachte Nora die Nachricht: „Alex kommt heute nicht. Es geht ihr nicht so gut.“ Nora hatte das befürchtet. Gestern hatte sie sich mit Alex gestritten. Laut. Ungerecht. Wütend. Noras Hände verkrampften. Sie sackte zusammen. Tränen brachen aus. Betty sah die dunkle Gemütswolke. Sie legte ihre Hand auf Noras Schulter und beugte sich zu ihr. Brennendes Augensalz und gelöster Nasenschleim mischten sich mit Speichel in schmerzverzerrter Grimasse. „Was ist los?“, fragte Betty mitfühlend. „Ich kann das nicht. Ich schaff das nicht. Ist alles zuviel. Das Kleid. Nähen lernen. Die Organisation.“ - „ Vielleicht brauchst du mehr Hilfe…“ Nora hörte nicht hin. Neue Tränen verschlossen ihr Gehör. Betty setzte sich neben sie. Nahm Noras Kopf an ihre Brust. Streichelte ihr Haar. Weich schmiegte es sich durch die Finger. Minuten verstrichen. Nur unterbrochen von beruhigenden Worten und lautem Schluchzen. Gefühlssterne explodierten unter den Häuten. Tief im Inneren strahlten sie zur Oberfläche und wurden Bewusstsein. Kälte wurde zu Wärme. Mütterliches zu Verlangen. Beide Frauen spürten Eins. Noras Ohr verschmolz in Bettys Herzschlag. Das Klopfen wurde Noras Rhythmus. Sie blickte auf. Bettys Hand rutschte in ihren Nacken. Die Augen verstanden den Zauber. Blaues und grünes Funkeln versuchten sich. Die Blauen, gewässert und ohne Widerstand, näherten sich den unendlich nahen Grünen. Gerüche vertrieben Gedanken und befreiten ursprüngliche Instinkte. Die Gesichter verloren Distanz. Lippen begrüßten sich. Rotes Gefühl berauschte die Sinne, deren Hände das Gegenüber die Mode raubte. Viel später, es war schon abends, kehrten den Nackten die Gedanken zurück. Frei von Angst und Schuld. Nora fühlte die neue Kraft.

Nora war aufgeregt. Es war so weit. Der große Tag. Sie legte das Hochzeitskleid auf den Boden und stieg hinein. Beide Hände zogen es hinauf. Kratzig legte sich der steife Unterrock an ihre Beine. Geschmeidige Schlangenbewegungen ermöglichten dem auf Taille geschnitten Kleid ihre Hüften, ohne Nähten zu schaden, zu passieren. Fest saß das Unterteil auf ihren Hüften. Gewandt schlüpfte sie in die Ärmel, während Betty ihr von hinten half, dass Kleid auf die Schultern zu legen und den hochgeschlossen Rücken bis zum Haaransatz zu verschließen. Die beiden sahen in den Spiegel. „Wirklich altmodisch!“, lachte Betty über die Rüschen und den großen Schleier. Nora lächelte zustimmend. Doch ihr war unwohl. Der große Moment. Das Lampenfieber begann. Die Hände schwitzten unter den Handschuhen. Ihr Herz klopfte laut. Sie sah durch den Vorhang. Spike war da. Mit Fliege und Smoking. Ungesehen  schlich sie zu ihrem Platz in die Dunkelheit und stellte sich auf die Klippe. Ihren Blick wandte sie zum Meer. Der Wind umwehte ihren Schleier. Das Kleid flatterte. Leise ertönte die Violine. Der Vorhang öffnete sich. Weiß leuchtete Nora im Scheinwerferlicht. Schrill kreischten Töne aus Lautsprechern. Nora atmete durch. Sie hatte es fast geschafft. Ihre erste Inszenierung. Ihr <Ü>Stück. Ihre Choreographie. Ihre Planung. Jetzt  ihr Können. Sie rührte sich nicht. Jeder Muskel war gespannt.. Eintausendundvier Augen beobachteten sie. Und sie begann zu tanzen.

von Martin Teuschel  


von Martin Teuschel

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Deine kleine Schnuppertour
  • Im Projekt Freiraum kann geduscht werden. Eine Dusche ist abgebildet.
  • Abbildung: Sauberkeit in Bad und WC. Ein Desinfektionsspender für die Toilette zum einfachen Gebrauch.
  • Böse Blumen: Ein Geschichtensammlung im PDF - Format
  • Glaube, Liebe, Hoffnung: Christliche Werte mit Tusche gezeichnet.
  • Sandra meint: "Was du hier schreibst ist Kitsch. Manchmal wünschte ich[..] eine Internetprüfung!" Was meinen andere?
  • Streetart zum Berliner Straßenkunstfestival Berlin-Lacht 2007 mit der Kurzgeschichte Straßenkunst
  • Berlin: Superstar Boxi spielt mit Styropor Stadtbau. Und baut dabei reichlich Tower 
  • Comic :Umzug in Berlin. Freunde helfen. Professionell ist das selten. Dafür gibts Renovierungstipps.
  • Ein Projekt das Gesundheit, soziale und informelle Gerechtigkeit, religiöse Toleranz und Integration fördern und fordern will, kann zur Verwirklichung seiner Ziele Grundregeln definieren.
  • Kurzgeschichte: An der orientalischen Bühne beim Karneval der Kulturen gab es wieder ein tolle Show.