Unkommerzielle Arbeiten von John-Martin Teuschel (JOMT) bis 2010

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www.berlinerplakate.de: Casablanca von Martin Teuschel

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Sandros stieg die Treppe hoch. In der ersten Etage fand er Celine. Wie verabredet wartete sie vor dem zweiten Seminarraum. Dort sollte der Film gezeigt werden. In beiden Gemütern tobte Aufregung.
Diese rührte nicht von hohen Erwartungen an den alten Film. Nein, das Wiedersehen verursachte in den jungen Menschen Gefühlswirbel. Wohlig waren sie auf diesen Moment zugegangen.
Beide trugen sie des anderen Bild in ihrem Herzen. Und jetzt: Sie standen sich gegenüber. Und sie vergaßen, die Qualitäten ihrer Hände und Zungen. Kein Krächzen wich ihren Stimmbändern. Stattdessen redeten ihre Augen. Sie schrieben ungewußte Worte in das Gegenüber. Geheimnisvoll plauderten Funkeln und Glitzern über Dinge, die Menschen seit jeher verbanden. Lichtreflexe versprachen Vertrauen und Liebe. Hoffnung erwachte. Vergessen standen Celine und Sandros sich gegenüber. In die Stille trat die Gruppe japanischer Schüler. Ihre Taubstummheit, die am Morgen einen Taifun entfacht hatte, ehrte jetzt ihren Namen. Die Stille zwischen Celine und Sandros vergrößerte sich. Mit dem gespenstischen Erscheinen der Kinder wuchs sie zu einem brausendem Meer. Die Kinder ließen die beiden Sprachlosen zurück und verschwanden in Raum Drei. Dort erwartete sie eine Einführung in die Berliner Stadtgeschichte. Celine fasste ihren Mut zusammen. Und davon brauchte sie viel, denn gerade nach einer solchen Stille konnte jedes Wort falsch sein. Doch einer würde sprechen müssen, ahnte sie. Sie atmete tief ein, ließ kurz die Augenlider sinken und war bereit ihre Worte durch die Stimmbänder zu pressen, um sie dann im Mund zu formen, als sie hörte: „Gehen wir rein!“ Wie dankbar war sie Sandros für seine Aufforderung. Die Luft verließ ihren Mund ein zartes „Ja.“ hauchend.
Im Raum Zwei herrschte Betriebsamkeit. Die Filmgruppe trug Stühle umher, rückte Tische und arrangierte Sitzkissen. Die Fenster wurden verdunkelt und der Vorfilm gestartet. Es war ein ruhiger Film über einen Mann der hinaus zog, sein Glück fand und zufrieden starb. Die Geschichte war eingängig positiv und doch nicht langweilig: Zum Happy-End führte tiefes Unglück, das zur Wandlung bereit war und den Zuschauern Spannung ließ. Nach diesem Open-Source-Film warben Gruppen für ihre Projekte im „Tor zum Herzen“ und die Dunkelheit färbte den Raum schwarz. Tüten raschelten, zwischen Sitz und Liegekissen kicherten Mädchenstimmen, die durch lautes Chipskrachen zwischen glänzenden Zähnen übertönt wurden. Dem Kinoabend gedieh Atmosphäre. In die Dunkelheit tönten die Bläser und das „Warner Bros“ Logo leuchte auf. Humphrey Bogart, Ingrid Bergman und Paul Hendreid wurden für Casablanca angekündigt. Erschrocken durch die lauten Instrumente rückte Celine ein wenig näher zu Sandros. Unbemerkt. Doch in der Luft mischten sich beider Düfte. Opiatisch legte sich Wohlsein zwischen die beiden. Naturkraft entführte sie ihrer technischen Zivilisation. Ohne die geringste Bewußtheit und mit Hilfe des schattigem Lichtspiels betörten beider Gerüche Sandros und Celine. Die Zündschnur brannte unbemerkt. Und in der Bombe strebten aphrodisierende Blumen romantisch nach Explosion.

Play it once, Sam. For old times sake.“,

 bat Ilsa, nachdem sich ihr Gesicht aus einem kurzen betrübten Augenblick zur unsagbar überzeugender Freude erhob. Ilsa strahlte, sie warf dem Pianisten mit gesenkten Lidern Luftküsse zu, bevor ihr Mund sich öffnete und gewinnend lächelte. Kein Mann, nicht einmal Sam, konnte dieser Frau widerstehen. Ihr Kopf war leicht in den Nacken gelegt, sie hatte sich Sam zugewandt, ihr Arm lud ihn geradezu ein, sich diesem hinreißenden Geschöpf mit seinen dichten Wimpern und der leicht gebogenen, kleinen Nase zu nähern. Doch das stand nicht im Drehbuch. Ilsa ließ keinen Zweifel an ihrer Bitte, wiederholte sie mit der gleichen, zärtlichen Dringlichkeit und überrannte Sams Widerstand. Er würde spielen, auch wenn es Rick schmerzte. Und er sang:

You must remember this.
A Kiss is just a kiss.
A Sigh is just a sigh.
The fundamental things apply
As time goes by
And when two lovers woo
The still say , „I love you“
On that you can rely


Und während aus seiner Stimme die Kraft alter Verletzungen vibrierte, funkelten in Ilsas Gesicht nur noch Ohrringe. Und die Träne am Augenlid. Ilsa verdunkelte sich, ihre Lippen bebten kraftlos.

Sandros berührte Celines Hand. Ein schüchternes, fast versehentlich scheinendes Moment. Celine zitterte vor Wärme. Und wünschte sich noch eine Berührung. Und folgte geschwächt der afrikanischen Erzählung. Figuren erschienen, Spannung baute sich auf und Wendungen ließen Bewegungen zu. Bewegungen, die es Sandros erlaubten seinen Arm um Celines Schulter zu legen, ohne dass sie es bemerkte, obwohl sie sich wünschte seinen Arm zu spüren. Doch vielleicht... vielleicht hatte sie seinen Arm doch bemerkt. Vielleicht ließ sie sich nur nichts anmerken. Sandros bemerkte ihre Schultern. Ein fester Stoß durchzog seinen Arm. Die Marseillaise wurde gespielt. Celine und einige andere Franzosen sangen laut mit Victors fester Stimme und schwingender Takthand. Das Deutschsprachige Lied, von dessen Text in Sandros spanischen Ohren nicht mehr als das mißverstandene Wort „Waterkant“ blieb, wurde übertönt. Nach dem Lied faßte Celine seine auf der Schulter liegende Hand an. Würde sie sie weglegen? Im Gegenteil: Sie zog sie fest an sich und streichelte seine Finger.
Sandros wartete mit dem Kuss. Die Spannung im Film stieg. Capitaine Renault hatte das „Rick's“ schliessen lassen.
Atem stand still, Münder blieben geöffnet, das Publikum war entsetzt. Celine drückte Sandros Hand fest. Und er sie fest an sich.
Wo zuvor Berührungen einander trafen, trafen sich Blicke. Und genauso zufällig wie Sandros erste Berührungen Celine trafen, fanden sich die Blicke der jungen Menschen. Weitere Zufälle erlaubten die Beobachtung der Schatten des Schwarz-Weißfilms auf bewegtem Profil, dessen Gesicht dem Film zugewandt war. Dann wandte sich das beobachtetende Antliz selbst dem Film zu, um später ebenfalls bewundertes Studienobjekt zu werden. Je öfter zufällige Blicke sich trafen, desto mehr nahten die Gesichter: Sandros zu Celine. Celine zu Sandros. Dann wieder zum Film, dessen Handlung glücklicherweise einfach blieb. Natürlich entschwanden ihnen Details, doch dem Fluss der Geschichte rannten sie hinterher, bis Ricks Schritte sich in wilden Kontrasten die Treppe hoch schwangen. Rick drang in das diffuse Licht halb geöffneter Jalousien ein. Ilsa wartete dort. Ilsa und Ricks Worte umrissen Gefühle. Trauer, Misstrauen, Wut und Argwohn verletzter Seelen stießen gepeitscht von Angst zusammen. Betteln und Erinnerungen an die Vergangenheit traten aus geöffneten Augen im Schatten liegender Gesichter. Angriffe von vorne und von hinten: Alle Mittel schienen erlaubt: Die wüste Beleidigung, der drohende Revolver und abweisende Ignoranz fesselten Sandros und Celine. Keiner ihrer Blicke traf sich. Denn keiner suchte des anderen Augen. Doch erst Ilsas Tränen trieben die Hauptdarstellerin in Ricks Arme.

How much i still love you“,

 weinte sie und sie küsste fest seine Oberlippe. Rick war verloren und seine letzte Stärke zeigte sich in seiner linken Hand: Fest drückte er Ilsa an sich heran.
Und Celine tat es Ilsa gleich. Sie drehte sich Sandros zu. Sah ihn an. Mit festem Blick in seine Augen. Genauso wie bei Ilsa sollte es werden. Sandros wurde Rick. Sah zu Ilsa. Und begegnete ihrem Kuss. Er saugte an Ilsas Oberlippe. Später an ihrem Hals. Liebe wallte auf. Schwaden ungezügelter Gefühle knisterten aufeinander. Film und Wirklichkeit vermischten sich zum reifen Traum. Zeit war schon längst keine messbare Dimension mehr. Gedanken waren erloschen. Zitternde Lippen und Vibration. Celine erwachte aus ihrer Umarmung. Sie hatte das Telefon nicht ausgeschaltet. Es vibrierte in ihrer Hose. Vielleicht hört es gleich auf. Sie irrte. Konnte nicht weiter küssen. Wollte es auch nicht. Sie wollte Sandros nicht täuschen. Sie war ehrlich. Ihr war die Romantik verflogen. Sanft schob sie Sandros zurück. Er verstand nicht. Sah sie an. Hatte er etwas falsch gemacht? Celine sah ihn entschuldigend an. Sah aber nicht seine gefühlte Zurückweisung. Vielmehr ärgerte sie sich über das Telefon. Sonst hatte sie es immer im Kino ausgeschaltet. Wie konnte das passieren? Hatte Sandros sie abgelenkt? Sie lächelte. Er sah ihr Lächeln. Wunderschön. Vielleicht sollte er sie wieder in die Arme nehmen. Doch ihr Blick wand sich ab. Nach unten. Zum Telefon. Gleichzeitig ging seiner nach oben. Jetzt war auch ihm der Zauber genommen. Die Innigkeit verflüchtete sich schneller als der Atem seinen Rhythmus schlug. Sandros trauerte um den Diebstahl seiner Gefühle. Celines Gesicht leuchtete vom Schein des Bildschirms. Während sie las kreisten ihre Gedanken um Sandros: „Was denkt er wohl von mir? Versteht er meine Ehrlichkeit?“ Sie ahnte nicht, die Größe ihres Opfers. Und als sie Sybilles Namen las, erschien ihr der Anruf sehr wichtig. Sie entschuldigte sich bei Sandros und verließ den Raum. Sandros blieb. Sein Kopf war in verliebte Wirren und im „Casablanca“-Rausch ertränkt. Er folgte den Bildern und dachte an Celine. An Telefone. An Frauen. An Lippen. An Telefonsucht. Süßen Geschmack. Nordafrika. Kein Gedanke passte an den Anderen. Ein Flickenteppich gewebt aus Hoffnung und Täuschung entstand. Kein einziger Flicken verwies Sandros auf Celines Ehrlichkeit um derentwillen sie das Telefon Sandros Süße vorgezogen hatte.
Draußen auf dem Flur rief Celine Sybille an. „Gut das Du anrufst“, hörte sie. „Wo bist Du gerade?“, wurde sie gefragt. „Im TZH.“ „Wir müssen uns treffen. Ich bin in der Nähe. Ich komme gleich vorbei.“
„Ist gut.“, gehorchte Celine. Sie stellte keine Fragen. Ein Instinkt hatte ihr verraten, dass etwas unangenehmes in der Luft lag. Hatte sie es gehört? In Sybilles Stimme? Sybilles Stimme war ihr sehr vertraut. Sie hatte einen mütterlichen Ton. Für Celine. Sie kannte ihn seit sie lebte. „Ich warte unten. Ich ruf Dich an, wenn ich da bin.“, hörte Celine und sagte: „Bis gleich.“ und beendete das Gespräch. „Bis gleich...“, sprach Sybille in das tote Telefon und war froh keine unangenehmen Fragen beantworten zu müssen.
Celine hatte der Mut zur Frage gefehlt. Sie ging zurück in den Filmsaal, schlich sich gebückt zu Sandros, entschuldigte sich mehrmals bei aufstöhnenden Stimmen, denen sie die Sicht nahm und sagte zu Sandros: „Ich muss weg. Sofort.“ Sandros zog eine Miene, die Celine in der Dunkelheit verborgen blieb. „Sehen wir uns?“, fragte er. „Ja“, versicherte ihm Celine. „Wo?“, fragte er. „Hier im Tor zum Herzen“, hauchte ihm Celine zu. Schnell küsste sie ihn, er umgriff ihren Hals, streichelte ihr Haar und als sie sich löste, sagte er „Bis bald“. „Bis bald“, wiederholte ihre Stimme und verließ unter erneuten Flüchen gestörter Filmschauer das Kino. Sie ging nach unten. Ihre Seele war getrübt. Sie hatte nur einen Hauch neuer Liebe und eine ungewisse Zukunft vor sich. Sie ging zum Empfang und wurde von Dimitri in ein Gespräch gelockt. Schnell kam es, das Celine ihm ihr Herz ausschüttete. Er hörte ihr zu, konnte sich an Sandros erinnern und hielt ihre Hand. Dimitri mochte Celine sehr gern. Und sein russisches Herz hatte ihr einen Platz freigehalten. Dieser Platz schmerzte jetzt. Celine litt. Er bemühte sich aufrichtig ihre unglückselige Stimmung zu teilen und mit ihr gemeinsam zu tragen. Dennoch, so sehr er sich mühte, so vergebens war sein unterfangen. Der Schwarze Wagen der Botschaft zerschnitt mit einer tausendmal verstörenderen Nachricht und hellen Lichtkegeln die verregnete Nacht. Er näherte sich dem Tor zum Herzen. Seine Nachricht „Dein Vater ist gestorben“ kam aus Sybilles Mund, nachdem Celine sich in den Wagen gesetzt hatte und die Staatskarosse zum Hubschrauberlandeplatz des französischen Konsulats fuhr. Celine war tränennass. Und die Arme, die sie hielten ersetzten nicht zum ersten Mal ihre Mutter. Die grässliche Gewalt ihrer Trauer nahm Besitz von ihrem Körper und überwand ihn sogar. Im Tor zum Herzen erreichte sie Dimitri, der weiter seinen Dienst verrichtete. Ihm wurde übel und ihn überkam die Ahnung, daß Celine etwas zugestoßen war. Er versuchte sie anzurufen. Diesmal war ihre Empfindung so groß, dass sie die Telefonvibration nicht spürte. Sandros Erregung war im Gegensatz zu Dimitri nicht von Ahnungen befallen. Im Gegenteil, er war so in Casablanca vertieft, dessen Ende er Celine beim nächsten Wiedersehen erzählen würde, dass er es nicht bemerkt hatte: Der Mühlstein seines Traums hatte seine Prophezeiung erfüllt.

von Martin Teuschel

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Deine kleine Schnuppertour
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