Unkommerzielle Arbeiten von John-Martin Teuschel (JOMT) bis 2010

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Er fühlte sich gefangen zwischen vergilbten Wänden und volkstümlicher Kunst. Mit Leidgenossen verflossen lange Sekunden untermalt vom Rascheln synthetischer Jacken und dem Geknipse neuer Kurznachrichten. Gelegentliches Blättern und Räuspern vertieften den Stillstand der Zeit. Das Wartezimmer war gefüllt. Der Arzt im ewigen Gespräch. „Wie viele Zigaretten rauchen sie?“ Erneutes Husten erinnerte an die Gefahr zur Pest noch Pocken zu bekommen. Die Zeit drängte Jaques. Er sah zur Uhr. Fünfundfünzig Minuten verblieben ihm. Ein wichtiger Termin. Danach zwei weniger wichtige. Sollte er Jean anrufen? NGOC. NGOC. Er klopfte mit den Füßen. Geduld war nie seine Stärke. „Geduld.“ Die Zeit träufelte. Langsam. Unaufhörlich. Veraltete Büromaschinen piepsten. Noch ein Blick zur Uhr. „Was soll ich tun? Noch drei Patienten. Jean ... ? Nein. Ich darf den Termin nicht verpassen. Der Arzttermin… Vielleicht verschieben. Hätte ich doch mit Gummi… Habe ich aber nicht. Und jetzt? Anna ist misstrauisch. Will wieder Sex. Bisher habe ich es mit Müdigkeit erklärt. Müde bin ich schon lange. Anna. Warum pflegen wir noch unsere Langeweile? Natürlich: Für Celine. Wollen ihre Welt erhalten. Soll das Abitur machen. Aber will Anna Scheidung? Ich weiß es nicht. Wir haben nie darüber gesprochen. Vielleicht… Zu oft vielleicht. Noch eins.“ Wieder blickte er zur Uhr. Sah sich um. „Alles die gleichen Unbekannten.“ Er blätterte unkonzentriert weiter. Seitenschlagen. Tastentippen. Ein Pullover entstand. Unaufhörlich klapperten Plastiknadeln. „Klappern für hässliches Grün.“, fuhr Jaques durch den Kopf. „Monsieur Chira“, tönte es vom Lautsprecher. Monsieur Chira war mindestens neunzig Jahre alt. Er erhob sich langsam und stützte sich auf seinem Stock. Dann blieb er stehen. Hielt inne. Sein Gesicht war freundlich, doch er lief nicht los. „Ich habe es eilig, verdammt.“, dachte Jaques: „Verdammt eilig, alter Mann. Kapierst Du das nicht?“ Er handelte. Jaques stand auf und half Monsieur Chira. Dieser wehrte sich zaghaft und vergeblich gegen Jaques zerrenden Griff. Endlich bewegte er sich: Ruckelnd. Wie ein Roboter, doch dann kam er in Fahrt. Und zwar richtig. Jaques fühlte sich bestätigt. „Richtig gemacht“, dachte er und klopfte sich innerlich die Schultern. Bis zum Arztzimmer führte er Monsieur Chira. Als er mit dem alten Mann vor dem Arzt stand unterstrich er, das er es eilig hatte. Der alte Mann, immer noch im festen Griff, sah ihn an. In seinem Blick lag Verachtung. Er sagte nichts. Der Arzt hingegen: „Alles zu seiner Zeit.“ „Ich habe einen sehr wichtigen Termin.“, erklärte Jaques, woraufhin der Weißkittel fragte: „Wichtiger als ihre Gesundheit?“ Jaques blieb sprachlos. Fühlte die Allmacht des Mediziners. Konnte nichts sagen. Das Argument war gut. Doch durch den letzten Spalt der schließenden Tür rief er : „Einen sehr wichtigen Termin.“ Das „Ungelogen.“ prallte an der Tür ab.
Gleichzeitig öffnete die ahnungslose Anna die Tür zur Lingerie Malpensa. Sie vermutete weder Jaques Liebschaften noch seine Besorgnis über die Warzen an seinem Penis oder seine Trennungswünsche. Als sie das Geschäft betrat, löste sie die mechanische Glocke aus, deren Klang schnell den Raum füllte, um die angelehnte Tür zu überwinden und an Maurice Ohr zu gelangen. Dieser aß gerade ein Baguette. Sein Ehemann Leon hatte es liebevoll mit Tomaten, Ziegenkäse, Salat, Thunfisch und extra viel Majonäse zubereitet. „Mist! Jetzt! Kundschaft!“, dachte er verärgert, biß ein letztes Mal in das Brot, kaute langsam und schluckte das französische Speichelbrotgemisch hinunter. Kurz spülte er seinen Mund mit weißem Wein, wischte sorgfältig tupfend seinen Mund ab und ging hungrig in den Laden. Er erkannte Anna sofort. Eine gute Kundin. Sie war deutsch und sprach fast akzentfrei französisch. Ihr Mann war Botschafter. Ihre Tochter hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Er begrüßte Anna herzlich, wie eine alte Freundin, küsste ihre Wangen und fragte sie nach ihrem Befinden. Artig bedankte sich Anna für die Nachfrage und verriet Maurice ihre Wünsche: „Verführerisch soll es werden.“ Maurice kannte nicht nur Details aus dem Leben seiner Kundinnen, sondern auch einen Großteil ihrer Wäsche. Augenzwinkernd bemerkte er: „Ihr Mann hat es sehr gut bei Ihnen!“ „Hat er es gut?“, zweifelte Anna lautlos. Maurice schien ihre Gedanken lesen zu können. „Ist doch alles gut?“, unterbrach er die schweigende Pause und seine Mimik drückte dabei die Anteilnahme aus, die Anna schon so lange vermisst hatte. Sie nickte verzagt. Maurice wagte es seiner Kundin näher zutreten. „Möchten sie darüber sprechen?“, fragte er vorsichtig. Er wusste, wie glatt dieses Eis sein konnte. Besonders bei einer so wichtigen Kundin. „Ja, möchte ich, aber mit einem Fremden…“, dachte Anna und ihr fiel auf, dass sie in Paris keine Freunde hatte. Sybille war in Berlin. Und dann fing sie an zu weinen. Sie erzählte Maurice von Jaques Arbeit, seinem Stress und seiner Unlust. Maurice hörte ihr aufmerksam zu. Sprach mit ihr. Erzählte von Menschen, denen es schlechter ging und Stunden später fühlte Anna sich besser. Maurice schenkte ihr Wäsche, die Annas Sinne verführte. Ganz für sie allein. „Damit Sie sich gut fühlen. Das ist wichtig. Für sie beide.“ Anna war glücklich, ihr Herz ausgeschüttet und sie verließ die Lingerie Malpensa nicht ohne einen Luftkuss für Maurice. Dieser war sich sicher, eine gute Kundin auf Lebenszeit gewonnen zu haben und ging zurück zu seinem Baguette. Er betastete es und befand es für „Matschig“. Er warf es in den Müll.
Wider Erwarten hatte Jaques seine Termine geschafft. Der Arzt hatte ihm die Salbe gegeben und den Rat es mal mit Kondomen zu versuchen. Und zwei Wochen möglichst auf Sex zu verzichten. Da Jaques Leben entgegen der Kenntnis seiner Frau äußerst triebhaft war erschien ihm diese Zeit als sehr lang, doch er hatte vor sein bestes zu geben, ohne zu Wissen, dass ihm ein kurz bevorstehendes Ereignis die Enthaltsamkeit ermöglichen würde. Und zwar für einen deutlich längeren Zeitraum als zwei Wochen. Der Tag schien gerettet, er wollte nach Hause, wo Anna ihn erwartete und er wieder lustlos sein würde. Keine Angelique, Francy, Josefine, Britta, Nicole. Keine Mademoiselle, keine Madame, nicht einmal ins Pornokino wollte er fahren. Er dachte über alles nach und schlängelte sich dabei mit einhundert Stundenkilometern durch die dichte Peripherie. Seine Gedanken füllten sich mit roten Lippen, bestrapsten Beinen und Sektkübeln. Berauscht von seinen Fantasien vergaß er sich und seine Frau und am allerschlimmsten: Den Verkehr. „Rot!“, schoß ihm durch den Kopf und das Licht gehörte nicht zum Puff. In Tausendstel Sekunden trat er auf das Gaspedal und erlebte in Zeitlupe die Hupe des herannahenden Lasters. Glas brach. Metall kreischte. Scherben flogen. Knochen zerfaserten wie Porzellan in seinem Körper und bohrten sich in seine Organe. Der Wagen schleuderte quer über die Straße. Sein Körper gehorchte längst nicht mehr. Er rang nach Luft, doch seine Atmung hatte ausgesetzt. Sein Auto flog in die andere Fahrbahn, wurde dort erneut gerammt und blieb auf dem Rücken liegen. Ungesichert fiel sein Körper vom Sitz in das Wagendach, seine Hände waren kraftlos, ließen das Lenkrad von der Schwerkraft geleitet los und sanken nach unten. Jaques war tot. Die Sanitäter mühten sich ihn wiederzubeleben: Sein Körper zuckte unter dem Defibrillator und sein Brustkorb hob sich durch den Druck der Luft, die mit dem Ambubeutel durch einen Schlauch in seine aufgeschlitzte Kehle gepresst wurde. Doch Jaques hatte zuerst aufgegeben. Nach ihm der Notarzt.
Es klingelte. „Hat er schon wieder den Schlüssel vergessen?“, fragte sich Anna und beendete die Überweisung einer ansehnlichen Summe an das „Tor zum Herzen“. Noch ein Klingeln. Sie ging zur Tür und öffnete. Vor ihr standen zwei Polizisten mit schlechter Nachricht. Sie halfen Anna vom Boden auf, wischten ein paar frische Tränen weg und überließen ihr ein Taschentuch. Sie stützten sie, als sie mit ihr ins Wohnzimmer gingen. Grün reflektierte die Einrichtung Licht auf Annas weiße Haut. Ihre Trauer war groß. „Warum? Warum?“, fragte sie immerzu. Doch keiner der Polizisten hatte eine Antwort. Sie wussten keinen Trost, doch ihre Anwesenheit vermittelte Vertrautheit. Das war nicht viel, sie kannten weder Anna noch Jaques, aber sie füllten den kalten, streng im Jugendstil gehaltenen Raum mit menschlicher Wärme. Anna weinte und schluchzte: Ihre Welt war zerstört, ihr Liebe war tot. Unter gutem Zureden, aufrichtiger Anteilnahme und zaghaften Umarmungen seitens der Polizisten schwand der Anfall ihres Leids zugunsten ihres Bewusstseins. Sie gewann ihre Fassung zurück. Sie wusste wieder was zu tun war. Sie bedankte sich bei den Polizisten und entließ die beiden aus ihrer Pflicht. Dann ging sie zum Telefon und rief Sybille an. Ohne Umschweife erklärte sie:
„Jaques ist tot. Ein Verkehrsunfall. Es ist schrecklich.“
Am anderen Ende der Leitung schluckte Sybille. „Wie? Was?“ Diesmal schrie Anna: „Jaques ist tot. Du mußt es Celine sagen. Nicht am Telefon. Persönlich.“
„Ja, ja. Natürlich… Wie geht es Dir?“
„Schrecklich…“
„Bist Du allein?“
„Ja.“
„Soll ich mit Celine kommen?“
„Ja, bitte“, dann fing Anna wieder an zu weinen.
„Anna, wir kommen bald.“
„Ich rufe die Botschaft an. Sie werden euch abholen. Bei Dir zuhause. Kümmer Dich um Celine.“
„Ich melde mich.“
Raymond sah Sybille an. Untrüglich. Seine Intuition verabschiedete sich von seinen Träumen romantischer Zweisamkeit.
„Was ist passiert?“
„Jaques ist tot.“
„Wer ist Jaques?“, fragte er und hoffte seine Neugier würde keine Falle werden.
„Kennst Du nicht“, antwortete Sybille knapp.
„Ich muss nach Paris.“
„Wann?“
„Sofort.“
Sybille trank ihr Bier aus und rief Celine an

von Martin Teuschel

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Deine kleine Schnuppertour
  • Im Projekt Freiraum kann geduscht werden. Eine Dusche ist abgebildet.
  • Abbildung: Sauberkeit in Bad und WC. Ein Desinfektionsspender für die Toilette zum einfachen Gebrauch.
  • Böse Blumen: Ein Geschichtensammlung im PDF - Format
  • Glaube, Liebe, Hoffnung: Christliche Werte mit Tusche gezeichnet.
  • Sandra meint: "Was du hier schreibst ist Kitsch. Manchmal wünschte ich[..] eine Internetprüfung!" Was meinen andere?
  • Streetart zum Berliner Straßenkunstfestival Berlin-Lacht 2007 mit der Kurzgeschichte Straßenkunst
  • Berlin: Superstar Boxi spielt mit Styropor Stadtbau. Und baut dabei reichlich Tower 
  • Comic :Umzug in Berlin. Freunde helfen. Professionell ist das selten. Dafür gibts Renovierungstipps.
  • Ein Projekt das Gesundheit, soziale und informelle Gerechtigkeit, religiöse Toleranz und Integration fördern und fordern will, kann zur Verwirklichung seiner Ziele Grundregeln definieren.
  • Kurzgeschichte: An der orientalischen Bühne beim Karneval der Kulturen gab es wieder ein tolle Show.